„Von selbst wird die Welt nicht besser“

Mehr als 80 Jahre lang im 20. Jahrhundert gelebt zu haben, sagt er, war eine Lektion in der Endlichkeit von Macht. Und: An die Europäische Union als Global Player glaubt er nicht. Eric Hobsbawm in Hampstead – eine Begegnung.

Wenn ich zurückrechne, dann war er seit den Studentenjahren in meinem Leben. „Europäische Revolutionen“, „Industrie und Empire“ und seine „Sozialrebellen“ gehörten zu den Schlüssellektüren der Siebzigerjahre, wurden immer wieder durchgearbeitet und andächtig rezipiert, für das eigene Schreiben, für die Rigorosen, für das Aha-Erlebnis. Akkuratesse, Analyse und sprachliche Sinnlichkeit waren von Eric Hobsbawm zu lernen, der Blick auf das große Ganze, auf das Gleichzeitige und das Detail.

Ich habe Hobsbawm dann auf einigen Tagungen erlebt: Die hochgewachsene Gestalt mit dem lang gezogenen Gesicht, dem etwas schiefen, unregelmäßigen Mund und dem Schwall dichter Haare war eine faszinierende Erscheinung – ein Gentleman, sehr gut angezogen, entschieden in seinen Überzeugungen und immer für pointierte Überraschungen gut. Ein Außenseiter und Grenzgänger, ein in der westlichen Kultur und Tradition verwurzelter Linker, ein Kosmopolit, ein Charismatiker, unsentimental und scharfzüngig. Wir liebten diesen großen Unruhestifter, der sein Leben lang brillante Universalgeschichte schrieb, aber auch mit den Unzugehörigen beschäftigt war, mit den Rebellen und Widerständigen – und mit Jazz, seiner großen Leidenschaft.

Jetzt ist er 90 geworden, und die Republik verleiht ihm das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, Erste Klasse, die Stadt Wien die Ehrenbürgerschaft. Die Botschaft in London lädt zum Geburtstagsfest. Die Party richtet Botschafterin Gabriele Matzner aus, die vier Philharmoniker vom Seifert-Quartett hat Hannes Androsch mitgebracht, der auch eine Laudatio hält, die andere spricht Victor Bulmer-Thomas, Direktor des Royal Institute of International Affairs.

Hobsbawm ist sichtlich gerührt.

Eigentlich, sagt er in seiner Dankesrede, wisse er nicht genau, wie er zu dieser Ehre komme, auch wenn sie hochwillkommen sei. Seine Mutter sei Wienerin gewesen, ja, und er habe die Kinderjahre in Wien verbracht, gewiss, aber Österreicher sei er nie gewesen, immer Engländer, von Geburt an.

Uridil, Sindelar, Justizpalast

Und dann zitiert er Karl Kraus und die kurzlebige Hymne „Deutschösterreich, du herrliches Land“ und die Heroen des Wunderteams. „Wien war die Hauptstadt des Fußballs in Kontinentaleuropa, und Deutschland war nirgendwo.“ Er erinnert sich an Josef Uridil, „unsterblich geworden durch das Lied ,Heute spielt der Uridil‘“, an Hiden und Sindelar, an den brennenden Justizpalast und daran, dass in seiner Familie von den „normalen Zeiten“ geredet wurde, wenn die Jahre vor 1914 gemeint waren. Im Übrigen seien seine Erinnerungen an die Kinderheimat dürftig. Sein Englisch ist sehr elegant, sein wienerisch gefärbtes Deutsch ebenso, und natürlich pflegt er britisches Understatement. In seinen Memoiren, „Gefährliche Zeiten“ (der englische Titel, „Interesting Times“, trifft sein Leben als „teilnehmender Beobachter“ weit besser), beginnt das eindrucksvolle Kapitel über seine Kindheit in Wien so: „Ich verbrachte meine Kindheit in der verarmten Hauptstadt eines Großreichs, die nach dessen Zusammenbruch einer ziemlich kleinen provinziellen Republik von großer Schönheit angehörte, die nicht daran glaubte, dass es sie unbedingt geben müsse.“

Eric John Blair Hobsbawm, geboren am 9.Juni 1917, englisch-österreichisch-jüdische Wurzeln. Geboren in Alexandria, aufgewachsen in Wien, frühe Jugend in Berlin, Studium in Cambridge. Späte, dann aber ungestüme Weltkarriere. 763.000 Eintragungen in Google, 5890 bei Amazon, 97 Nennungen in der British Library. Übersetzt in mehr als 40 Sprachen. Spricht neben Deutsch und Englisch ebenso gut Französisch, Spanisch und Italienisch. Liest außerdem Dänisch, Katalan und Portugiesisch. Gilt als einer der wichtigsten Historiker unserer Zeit.

Der ungewöhnliche Nachname entstand, weil sich die britische Bürokratie gleich zweimal verhörte. Als der Möbeltischler David Obstbaum und seine Frau, Rose, 1870 nach London auswanderten, machte der Einwanderungsbeamte Hobsbaum daraus. Und als sein Enkel als Sohn des Leopold Percy Hobsbaum und der Wiener Kaufmannstochter Nelly Grün im damals britischen Ägypten zur Welt kam, schrieb der Konsularbeamte statt dem U ein W in die Geburtsurkunde.

Dass er kurz vor der Oktoberrevolution geboren wurde, hat Hobsbawm immer als Fingerzeig für sein politisch leidenschaftliches Leben genommen – als einer der Momente in der Weltgeschichte, wo etwas völlig Neues und Unerhörtes geschah. Um Revolutionen kreisen viele seiner Bücher, darunter die Trilogie über das „lange 19. Jahrhundert“ zwischen 1789 und 1914: über den tief gehenden Wandel, ausgelöst durch die Französische Revolution und die Industrialisierung in England, über den Aufstieg des Bürgertums und den Abschied des Ancien Régime, über Imperialismus und Kapitalismus und den frühen Sozialismus, über die tiefen Kulturbrüche dieser Epoche.

Erst 1994, mit fast 80 Jahren, als die Berliner Mauer gefallen, ein kommunistisches Regime nach dem anderen gestürzt und die Sowjetunion von der Landkarte verschwunden war, als Francis Fukuyama das Ende der Geschichte ausrief und das Jahrzehnt im Zeichen von Bill Clinton, New Economy und dem Internet stand, publizierte Hobsbawm sein großes Alterswerk über sein eigenes Jahrhundert, „Das Zeitalter der Extreme“. Darin analysierte er, was soeben zu Ende gegangen war: das „kurze 20. Jahrhundert“, das 1914 begann und 1991 endete. Ein Jahrhundert der Extreme, des Todes und der Leiden, andererseits der atemberaubenden Fortschritte in der materiellen Wirtschaft und des Lebensniveaus der Menschen. Extrem die technischen, kulturellen, gesellschaftlichen Änderungen, eine ungeheure Beschleunigung der Geschichte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, das ein „Goldenes Zeitalter“ des technologischen Fortschritts und des Keynesianischen Wohlfahrtsstaats war, aber zugleich in der Niederlage des „real existierenden Sozialismus“ und im Siegeszug des Neoliberalismus endete. Das Scheitern des sozialistischen Projekts war zugleich auch das Scheitern des Marxisten und lebenslangen Kommunisten Hobsbawm. Das Buch, eine ernüchternde Bilanz auch der eigenen politischen Passion, wurde ein Bestseller. Eric Hobsbawm aber kennt den Preis: „Nothing can shape a historians mind more than a defeat.“ Es ist die Niederlage, die den guten Historiker ausmacht.

„Wäre ich ein junger Chinese . . .“

Wir sitzen bei ihm zu Hause, in Hampstead, in einem dieser klassischen Einfamilienhäuser, wie sie überall in London zu finden sind: kleiner Vorgarten, Lobby, ein großer Wohnraum und die Küche zum gepflegten Garten unten, die Schlafräume oben. Hobsbawm, den ich als etwas streng und unnahbar in Erinnerung habe, strahlt inzwischen eine nachsichtige Milde aus, aber sein Denken und seine Sprache haben an Schärfe und Prägnanz nichts verloren. Seine Gegenwartsanalyse ist pessimistisch, sein Blick in die Zukunft auch, obwohl die Welt am Ende des „katastrophalsten Jahrhunderts in der Geschichte“ weit besser dastehe als an seinem Anfang. Aber mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging für Hobsbawm unwiderruflich ein Zeitalter zu Ende, das die Möglichkeit einer Alternative in sich getragen habe, die seit dem späten 18. Jahrhundert einen Weg in Richtung Aufklärung, Menschenrechte und Vernunft gewiesen hätte. „Es gibt kein regulierendes System mehr zwischen den Mächten“, sagt er. „In der Zeit zwischen dem Wiener Kongress, 1815, und 1991 hat das internationale System mit all seinen Schwächen die Welt verhältnismäßig gut kontrolliert – mit zwei Ausnahmen: der Epoche der beiden Weltkriege. Eineinhalb Jahrhunderte hat das System ziemlich gut gearbeitet, inklusive der Bipolarität zwischen den zwei Supermächten. Jetzt existiert keines, jetzt muss es wieder erfunden werden. Und ich glaube, mein Pessimismus ist heute nicht nur der Pessimismus eines alten Herrn, der auf ein schlimmes Jahrhundert zurückblickt und daher nicht sehr optimistisch ist. Wäre ich ein junger Chinese oder ein junger Inder, würde ich das wahrscheinlich anders sehen. Aber ich glaube, die meisten Leute schauen mit Unsicherheit in die Zukunft. Jedenfalls sind die nächsten 20, 30 Jahre keine Zeit, die der Welt viel Ruhe und Fortschritt versprechen.“

Leidenschaft und Kommunismus

Hobsbawm wandte sich 1932 in Berlin angesichts des Aufstiegs der Nazis dem Kommunismus zu; seine politischen Weihen empfing er fünf Jahre später im „roten Cambridge“, in dem die Linke das intellektuelle und gesellschaftliche Sagen hatte. Heute hält er die Frage, warum der Kommunismus so viele der Besten seiner Generation angezogen hat, für ein zentrales Thema des vorigen Jahrhunderts. Denn nichts sei für dieses Jahrhundert so charakteristisch gewesen wie die politische Leidenschaft, „und der reinste Ausdruck dafür war der Kommunismus“. Und die Weltrevolution.

Die Überzeugung von der Notwendigkeit einer umgewandelten Gesellschaft ließ ihn nicht mehr los und wurde weniger von den russischen Realitäten genährt als von Marx selbst: Nach wie vor hält Hobsbawm den Widerspruch ebenso wie den Widerstand als Bewegungsprinzip der Geschichte für unerlässlich. Nach 1956, als Chruschtschow Stalins Verbrechen öffentlich machte, wurde aus dem orthodoxen Kommunisten ein „heterodoxer“, ein undogmatischer Linker, der sich aus dem politischen Tagesgeschäft zurückzog. Dafür schrieb er umso mehr. Zusammen mit Isaiah Berlin, Christopher Hill und Edward P. Thompson begründete er die höchst einflussreiche marxistische Tradition in der britischen Historiografie, die ihre Neugier auf Strukturen und Wandel von Gesellschaften und Kulturen richtete, Geschichte nicht als Schilderung von Fakten und Abfolgen, sondern als Analyse und Synthese verstand, bisher Unvergleichbares verglich und einen globalen Blick entwickelte.

Auch wenn er die sowjetische Politik scharf kritisierte, er blieb, was er war, blieb in seiner Partei, wenn auch als skeptischer Oppositioneller. Das bremste nicht seine internationale Karriere, wohl aber jene daheim: Erst 1971 konnte sich die Universität von London zu einer Professur durchringen – Hobsbawm war damals Mitte 50. Gleichzeitig machte er sich als Jazzkritiker des „New Statesman“ einen Namen – unter dem Pseudonym Francis Newton, nach dem Trompeter von Billie Holiday, einem Kommunisten.

Jetzt, wo die alten Genossen von Bord gegangen und alle Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie das vor 40 Jahren noch hieß, im Maschinenraum des späten 20. Jahrhunderts zermalmt worden sind, ist ihm jede freundliche Zukunftsperspektive abhanden gekommen. Der Klimawandel, der Kampf um die Energieressourcen, die Herausforderungen der Globalisierung, die Gefahren des Terrorismus seien in den alten Kategorien des politischen Managements nicht mehr erfassbar.

Mehr als 80 Jahre lang im 20. Jahrhundert gelebt zu haben, sagt er, war eine Lektion in der Endlichkeit von politischer Macht. Er hat das völlige Verschwinden der europäischen Kolonialreiche miterlebt, darunter das des größten, des britischen Empire, das Ende des „Tausendjährigen Reichs“ und das der UdSSR, „einer revolutionären Macht, die ewig währen sollte“. An die Europäische Union als politischen Global Player glaubt er nicht – dazu sei sie bereits viel zu groß, viel zu sehr mit der Nato verbunden und viel zu viel von den Partikularinteressen der Mitglieder gesteuert. Was bleibt? Finsternis, das letzte Wort im „Zeitalter der Extreme“? Oder doch der weitere Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, denn „von selbst wird die Welt nicht besser“, wie seine Erinnerungen schließen? Was bleibt, ist jedenfalls sein unermüdliches Schreiben: Soeben erschien ein Band mit Essays und Vorträgen aus den vergangenen Jahren zu den Themen Globalisierung, Demokratie und Terrorismus.

Ein paar Tage, nachdem ich aus London zurückgekommen bin, treffe ich Robert Schindel und erzähle ihm von der Begegnung mit Hobsbawm. „Ist er immer noch derselbe Sturkopf“, fragt er. „Klar“, sage ich. „Keine Rückzugsgefechte, keine Selbstbezichtigungen. Kein Applaus für die postkommunistischen Nato-Euphoriker. Kein Einknicken vor dem Triumph des Marktes. Auch wenn er keine Antwort weiß – Sozialismus oder Barbarei, das gilt ihm nach wie vor.“ „Das war zu erwarten“, sagt Schindel anerkennend. „Der trägt seine Sache durch.“ ■

HOBSBAWM: Neuerscheinungen

Dieser Tage ist bei Little, Brown Book Group, London, Eric Hobsbawms neues Buch, „Globalisation, Democracy and Terrorism“, erschienen.

Hobsbawms bereits 1972 im Suhrkamp Verlag erstmals auf Deutsch präsentierte Studie „Die Banditen – Räuber als Sozialrebellen“ kommt Anfang August in
einer überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe im Hanser Verlag, München, heraus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2007)

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