Die Apotheke der Armen

Mit der Patentierung eines Medikaments erhöht sich dessen Preis ums Vielfache. Novartis vs. Indien, Pharmakonzern vs. Generika-Industrie: ein Fallbeispiel im Kampf um Patente und Monopole.

Die EU-Abgeordneten sind Post gewohnt. Täglich fluten kiloweiseBriefe und Petitionen in ihre Postkästen. Von allen Seiten werden die Volksvertreter aufgefordert, tätig zu werden. Umso ungewöhnlicher war ein Brief im März dieses Jahres, der die Parlamentarier zum Nichtstun aufforderte: Sie sollten eine Erklärung nicht unterschreiben. Absender des ungewöhnlichen Schreibens ist der Pharmakonzern Novartis.

Die Vorgeschichte beginnt in Indien, wo jährlich 20.000 Menschen an Blutkrebs erkranken. Novartis brachte am 17. Mai 2006 eine zweifache Klage beim High Court in Chennai ein, weil die indischen Behörden die Patentierung seines Blutkrebs-Medikaments Glivec verweigert hatten. Novartis klagte nicht nur auf Zuteilung des Patents, sondern auch gegen das indische Patentgesetz. In 40 anderen Ländern, sogar in China, sei das Patent anstandslos gewährt worden.

Doch Indien ist anders. Es beherbergt die stärkste Generika-Industrie der Welt. Durch nachgebaute Medikamente ist der Preis für Blutkrebs-Medikamente rapide gefallen. In Ländern, wo Novartis ein Patent auf Glivec innehat, kostet das Medikament rund 2600 US-Dollar pro Monat. Indische Produzenten bieten Generika um 200 US-Dollar an. Das neue indische Patentgesetz von 2005 sieht vor, dass Patente nur bei Vorliegen einer echten Innovation erteilt werden. Abschnitt 3d verlangt, dass bestehende Wirkstoffe, die neu zum Patent angemeldet werden, eine „verbesserte Wirkung“ zeigen müssen, um ein 20-jähriges Monopolrecht zu erhalten. Dieser Passus geht auf einen Streit in der Welthandelsorganisation WTO zurück.Das dortige Abkommen über den Schutz geistiger Eigentumsrechte,TRIPS, von 1995 verpflichtet die Mitgliedsländer zu strengemSchutz geistigen Eigentums, auch bei Medikamenten. Alle 151 WTO-Mitglieder müssen in den nächsten Jahren die Regeln in nationales Recht umsetzen. Das führte zu heftigen Kontroversen, weil durch Monopolrechte vielen Millionen Menschen der Zugang zu erschwinglicher Medizin versperrt wird. In einer Nachverhandlung des TRIPS 2001 in Doha wurden deshalb die Mitgliedsstaaten aufgefordert, das TRIPS so umzusetzen, dass „das Recht auf den Schutz der Gesundheit gefördert wird“. Abschnitt 3d des neuen indischen Patentgesetzes verfolgt genau dieses Ziel. Nach Ansicht des indischen Patentamtes stellt Glivec gegenüber älteren Versionen keine nennenswerte Neuerung dar, das Medikament erfülle die Anforderungen von 3d nicht.

Novartis schäumte. Das indische Patentgesetz verstoße gegen die indische Verfassung und gegen WTO-Recht, heißt es in der Klageschrift. Das kam nicht gut an. Die Klage löste eine weltweite Protestlawine aus. In Indien wurden die Gerichtsverhandlungen von aufgebrachten Menschenmengen begleitet. Bischof Yvon Ambroise von der katholischen Bischofskonferenz rügte: „Wir verurteilen Praktiken, die Innovationen trivialisieren, um Unternehmensgewinne zu maximieren.“ Eine Petition von „Ärzte oh- ne Grenzen“ wurde von 420.000 Menschen aus aller Welt unterzeichnet. Besonders schmerzlich für Novartis ist ein Schreiben aus dem US-Kongress. Ausschussvorsitzender Henry Waxmann forderte Novartis-Chef Daniel Vasella öffentlich auf, die Klage zu überdenken, nicht ohne den Hinweis anzubringen, dass in Indien 80 Prozent der Menschen von weniger als zwei US-Dollar pro Tag leben und Novartis 84 Prozent seiner Pharmaumsätze in den USA, in Europa und Japan erziele.

Mit den 785 Briefen an die Europabgeordneten wollte Novartis eine ähnlich peinliche Stellungnahme des EU-Parlaments verhindern. Das gelang. Die Klage hingegen – vorerst – nicht. Das indische Gericht erklärte sich vorvergange Woche für unzuständig: Gegen Verstöße der Freihandelsregeln müsse der Konzern bei der WTO klagen.

Falls Novartis es vor der WTO versucht und dort gewinnt, malen „Ärzte ohne Grenzen“ ein düsteres Bild. Die Streichung des Abschnitts 3d könnte „verheerende Folgen für die Medikamentenversorgung“ haben – für die ganze Welt. In Indien sind derzeit rund 9000 Patentanträge in der Warteschlange. Die meisten betreffen nur unwesentliche Veränderungen schon bekannter Medikamente, sogenannte „Follow-up-Patente“, die durch Abschnitt 3d keine Chance auf Patentschutz haben. Würde das Gesetz im Sinne von Novartis geändert, könnten viele dieser Medikamente erneut patentiert werden und wären damit tabu für den generischen Wettbewerb. Es wäre nicht nur das Aus für die Produktion vieler Generika, sondern auch für deren Export: Indien ist die größte Generika-Quelle der Welt. 50 Prozent aller Medikamente, die Unicef verwendet, und 80 Prozent aller Aids-Medikamente, die „Ärzte ohne Grenzen“ verwenden, stammen aus Indien. Der „Apotheke der Armen“ droht die Schließung.

Bei Novartis hört sich das ganz anders an: Es stehe „außer Frage, dass die Unzulänglichkeiten des indischen Patentgesetzes negative Konsequenzen für die Patienten haben werden“. In seiner öffentlichen Rechtfertigung verweist der Konzern groß auf seine soziale Verantwortung: In Indien bekämen 6700 Leukämie-Patienten Glivec kostenlos. Was der Konzern nicht dazusagt: 2006 erzielte er mit 7,2 Milliarden US-Dollar den zehnten Rekordgewinn in Folge. Weniger als die Hälfte davon würde ausreichen, um alle 100.000 Menschen, die weltweit an Blutkrebs leiden, zu teuren Patentpreisen mit Glivec zu versorgen. „Das Vertrauen auf die Großzügigkeit von Unternehmen ist keine nachhaltige Lösung“, schrieb deshalb der Kongressabgeordnete Waxman.

Die Klage von Novartis ist nicht die erste, die das TRIPS verursacht hat. Südafrika ist das Land mit dem größten HIV-Problem. 1997 erlaubte das Land mit einer Gesetzesänderung Aids-Generika, was den Preis um mehr als 90 Prozent reduzierte. Gegen dieses Gesetz legte die versammelte westliche Pharma-Prominenz, 39 Konzerne, Klage ein. Infolge eines weltweiten Proteststurms ließen sie die Klage jedoch fallen.In anderen Fällen, wonicht Aids das Themawar, hatten die Klagenmehr Erfolg. – Gegendas TRIPS gibt es abernicht nur Bedenken,weil es den Zugang zuerschwinglichen Medikamenten gefährdet –derzeit sterben jährlich17 Millionen Menschen an heilbaren Krankheiten –, es setzt auch die falschen Anreize für die Pharmaforschung: Die Entwicklung von Impfungen und Medikamenten gegen Malaria, Tuberkulose oder Schlafkrankheit steht still, weil die Armen keine kaufkräftige Kundschaft darstellen. Stattdessen fließt reichlich Geld in die Behandlung von Übergewicht, Haarausfall und Impotenz, weil hier „Bedürfnisse“ und Kaufkraft übereinstimmen. „Das System der Forschungsfinanzierung ist ineffizient und ungerecht“, diagnostiziert der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz. TRIPS sei „ein Fehler“.

Die Pharmakonzerne sehen das naturgemäß anders: Ohne Monopolrechte hätten sie keinen Anreiz zur Innovation. Novartis ist „der festen Überzeugung, dass Patente Leben retten“. Klingt dramatisch. Doch erstens geben Pharmakonzerne deutlich mehr Geld für Werbung und Marketing aus als für Forschung und Entwicklung. Zweitens weist die Branche märchenhafte Gewinnspannen auf. Pfizers Reingewinn kletterte im Vorjahr auf 15 Milliarden US-Dollar, der von Roche auf 9,2 Milliarden Franken. Drittens erzielen die Medikamente-Hersteller den Löwenanteil ihrer Umsätze in den reichen Ländern, allein von daher können sie nicht vom Patentschutz in armen Ländern abhängig sein. Viertens gilt selbst in den reichen Ländern der Patentschutz für Medikamente erst seit wenigen Jahrzehnten. Wer wagt zu behaupten, dass es vorher keinen medizinischen Fortschritt gab?

Im Vorjahr begann in der Weltgesundheitsorganisation WHO ein zukunftsweisender Prozess: Die pharmazeutische Forschung soll grundsätzlich überdacht werden. Ausgangserkenntnis: Das bisherige System aus Patentmonopolen hat versagt. Stiglitz schlägt als Lösung einen globalen Forschungsfonds vor, in dem dringend benötigte Medikamente ausgeschrieben werden. Forscher in aller Welt können sich daran beteiligen. Die Erfinder würden belohnt, und das Ergebnis stünde der Allgemeinheit zum Selbstkostenpreis zur Verfügung, es wäre das Aus für private Produktionsmonopole. Eine globale Lösung sollte jedoch nicht in der WTO gesucht werden. „Das Thema des geistigen Eigentums ist zu wichtig, um es den Handelsministern allein zu überlassen“, so Stiglitz. Die UNO sei der bessere Ort.

Das TRIPS-Abkommen steht unter noch weiter reichender Anklage: Es zwingt die Mitgliedsländer, geistige Eigentumsrechte auch auf Lebewesen zu gewähren. Damit bildet es die Rechtsgrundlage für zwei weitere Phänomene, mit denen Indien verheerende Erfahrungen gemacht: Biopiraterie und Gentechnik. Der Patentschutz auf pflanzliche Wirkstoffe hat dazu geführt, dass westliche Pharmakonzerne 90 Patente auf den Wirkstoff des heiligen Neem-Baumes angemeldet haben. Dessen ölreiche Samen sind wahre Wundermittel, sie werden von der indischen Bevölkerung als Heilmittel, Kosmetika und biologisches Schädlingsbekämpfungsmittel verwendet. Infolge der Patente hat sich der lokale Preis für Neem verzehnfacht. Diejenigen, die die Wirkung der Samen entdeckt und seit mehr als tausend Jahren genützt haben, werden so von der Nutzung ausgeschlossen. Ähnliches geschah mit Hoodia, Ayahuasca, Basmati und Biribiri. Von den 4000 Pflanzenpatenten, die in den vergangenen Jahren in den USA gewährt wurden, beziehen sich 2000 auf traditionelles Wissen des Südens. Die indische Physikerin und Bürgerrechtlerin Vandana Shiva vergleicht die westlichen Life-Science-Konzerne mit der „zweiten Ankunft des Kolumbus“.

Auch in der agrarischen Gentechnik hat Indien bittere Erfahrungen gemacht. Monsanto verkaufte teures Saatgut für Baumwolle an indische Bauern: Rekordernten wurden versprochen. Diese blieben jedoch aus, zahlreiche verschuldete Bauern verübten Selbstmord. Manche, indem sie das Insektengift, das ihnen Monsanto im Doppelpack zum Gentechnik-Saatgut verkaufte, tranken. Nach jüngsten Angaben der indischen Regierung nahmen sich allein 2003 mehr als 17.000 indische Bauern das Leben.

Die Frage, wie weit der Schutz geistigen Eigentums reichen soll, hat auch in Österreich die Massen mobilisiert. Vor zehn Jahren unterschrieben 1,2 Millionen Menschen das Gentechnik-Volksbegehren. Die Kernforderung lautete: „Keine Patente auf Leben“. Der Regierung war das egal. Sie setzte 2005 – zusätzlich zu TRIPS – die EU-Biopatentrichtlinie um, seither können Pflanzen, Tiere und Menschenteile patentiert werden. Als die afrikanischen WTO-Mitglieder dieselbe Forderung – „Keine Patente auf Leben“ – in der WTO erhoben, wurden sie von den westlichen Handelsministern nicht einmal ignoriert. Unter den Ökonomen setzt langsam ein Umdenken ein. Wissen ist ein öffentliches Gut und keine Ware wie jede andere. Harvard-Ökonom Dani Rodrik unterstützt Stiglitz: „Die reichen Länder können TRIPS nicht einfach durch Anhänge ändern; sie müssen es ganz abschaffen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2007)

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