Vergriffen, Peter Strasser!

Intuition ist unersetzbar, wenn Handlungsabläufe schneller sind als die Reflexion, wenn das Denken und Handeln einer neuen Richtung bedürfen. Eine Entgegnung zu Peter Strassers Ausführungen über die „Bauchgefühlsliteratur“.

An prominentester Stelle des „Spectrums“ vom 6. Oktober trat Peter Strasser an um die aktuelle „Bauchgefühlsliteratur“ abzuhandeln – und er handelte sie ab! Mein Kopf sagt mir: Er hat sich vergriffen.

Wollte sich die interessierte Leserin, der interessierte Leser an die angekündigte Thematik herantasten, dann erfuhr sie/er, wie ich, von den drei zu besprechenden Büchern wenig bis nichts, denn diese mussten herhalten für eine Heimzahlung. Es war, als hätte ein Kritiker die Besprechung einer Theateraufführung genutzt, um mit dem Theater generell abzurechnen. Ein wesentlicher Unterschied allerdings besteht: Beim Theater würde es sich um ein abgrenzbares Gebiet handeln, die Strassersche Thematik hingegen verschwimmt im Nebulosen, vor allem aber im Dubiosen. Man ist verblüfft welche „Sachen“ hier zusammenzugehören scheinen und unter den Überbegriffen „Intuition“ und „das Intuitive“ versammelt sind. Wenn man, von Berufs wegen, mit diesen Begriffen zu tun hat, dann ist man, vorsichtig formuliert, erst einmal irritiert, in welchem Kontext sie hier erscheinen.

Ich kenne mich aus mit Architektur, mit der Kunst, mit verschiedenen kreativen Bereichen und Gestaltungsprozessen, mit Innovationen auch in der Technik. Kurzum mit Themen und Methoden in denen das Denken nicht die einzige Quelle der Arbeit und der Ergebnisse ist. Und in diesen Disziplinen suchen wir die Intuition und versuchen wir, sie gleich dem Denken zu kultivieren.

Laut Strasser aber haben wir es da mit einem Monster zu tun, es scheint, mit dem Bösen schlechthin. Strasser rezensiert Bücher (oder gibt vor Bücher zu rezensieren), die alle „kein einheitliches Thema abhandeln“. Aber handelt er ein einheitliches Thema ab? Intuition, schreibt er, „bezeichnet eine ,Sache‘, unter der sich eine Mannigfaltigkeit ganz unterschiedlicher Situationen verbirgt“. Situationen? Ich beginne zu staunen: „Intuitiv“ hätten die US-Amerikaner nach den Anschlägen vom 11.September 2001 die Flugzeuge gemieden. Sehr zu ihrem (statistisch belegbaren) Schaden. War dafür Intuition die Triebkraft? Ich hätte gemeint: die Angst!

Und weiter kommt Strasser „auf die verhängnisvollen Rolle kultureller Vorurteile“ zu sprechen und auf die Nazis: „Bestimmte Gesichter beispielsweise ,mögen wir intuitiv nicht‘.“ Intuition ist laut Strasser die Quelle von Vorurteilen, selbst von Rassismus. Ich dachte immer, hinter diesen stünden Propaganda, Werbung, eine gewisse Sozialisierung, Angst und Aggression – und ein Mangel an Reflexion.

Und da wird mir deutlich: Während für mich Intuition ein Zusatz, ein Impuls für das Denken ist, entsteht bei Strasser Intuition schon durch das Fehlen von Vernunft, alleine aus dem Mangel an Denken. Intuition, so scheint es, wird bei ihm gleichgesetzt mit konditionierten Reflexen.

Intuition = Ressentiment?

Ich kenne ein Sowohl-als-Auch von Vernunft und Intuition. Gibt es bei Strasser nur ein Entweder-Oder? Während Intuition für mich für das Frische, das Überraschende, das Neue steht, steht sie bei ihm für das Dumpfe, Drohende und Alte. Bei Strasser wird Intuition so ziemlich mit allem verwechselt, was im individuellen Leben für Unglück sorgt und im politischen in der Katastrophe mündet. Wir „lernen, dass Intuitionen unter Umständen lebensgefährlich sind“, dass „mehr Intuition bei Managern noch mehr Bankenzusammenbrüche“, „die Vermählung von Verstand und Gefühl alles Mögliche“ produziere, „Faschismus und Kirchenstaat eingeschlossen“. (Letzteres schreibt er dem aufgeklärten Hamburger „Spiegel“ ins Stammbuch, der sich auch dem „Bauchgefühl“ widmet.)

Strasser verbindet und verbündet die Intuition, Gefühle und Fühlen, unterschiedslos mit dem Nichtaufgeklärten, dem Ressentiment, mit Esoterik, selbst mit dem Okkulten (Swedenborg) und dem Pathologischen (Autismus).

Wir könnten es dabei bewenden lassen und das Ganze als Fall unterschiedlicher Sprachsozialisierung abtun. Wenn einer die Wendung „aus dem Bauch heraus“ erstmalig hört, wenn seine Freunde schon mit Aktien handeln, wen wundert es dann, wenn er sich zu dieser Formulierung nichts anderes vorstellen kann als einen Bauch, aus dem sich allenfalls ein Furz löst oder ein Karzinom herausoperieren lässt.

Ein solcher Mangel an Differenzierung ist schwer entschuldbar.

Situationen sind nicht Intuitionen, auch ist die „Neigung“ (laut Duden: Vorliebe) nicht Intuition. Intuition ist nicht Gefühl, sondern wird bestenfalls von diesem inspiriert. Intuition ist nicht ein Vorurteil, sondern geradezu ein Mittel, über vorgeformte Denkschemata hinwegzukommen. Und vor allem ist Intuition eines nicht: Intention. Die Absicht, so auch die eigennützige oder die destruktive, kann sich mit allem möglichen verbünden, auch mit dem Denken.

Bombenbastler und Wirtschaftskriminelle schaffen häufig eine erstaunliche Symbiose von „böser“ Absicht und höchster Intelligenz. Und geradezu verheerend wäre es, als Konsequenz daraus die Intelligenz zu ächten, in der Art in der Strasser Intuition und Gefühl, als Teil einer voraufgeklärten Welt, in ihrer Geschichte entsorgen möchte.

Mit der Intuition verhält es sich wie mit dem Denken, wer sie nicht liebt, der hat dafür zwei schlechte Gründe: Entweder die eigene schwächelt, oder die der anderen stört die eigene „Ordnung der Dinge“. Sofern ich das richtig verstanden habe, hat die von Strasser berührte – oder eben nicht berührte – Thematik mit Entscheidungen, Lösungen und Handlungen zu tun, die nicht oder nicht vorwiegend vom Denken bestimmt sind.

Tatsächlich, und hier begegnen wir uns, ist es so, dass das Denken im Leben nicht immer der entscheidende Handlungsgeber ist. Ehen werden in dieser Weise begründet, Berufslaufbahnen eingeschlagen, Süchte „gedeihen“ selbst im Wissen um ihre Unvernunft, unternehmerische Entscheidungen sind nicht immer durchdacht. Im politischen Leben, könnte man meinen, taucht die Vernunft nur selten auf. Das alles ist folgenschwer und katastrophal.

Aber wie Strasser richtig bemerkt, dass keine Intuition eine Garantie für Gelingen in sich birgt, so garantiert auch das Denken eine solche nicht. Trotzdem gibt es zum Entscheiden und Handeln selten eine Alternative.

Intuition ist unersetzbar, wenn Handlungsabläufe schneller sind als die Reflexion, Einflussfaktoren zahlreicher und komplexer sind, als dass sie alle vom Denken abgeschätzt werden könnten, sie ist unverzichtbar bei der Suche nach dem Neuen und Originellen. Und immer dann, wenn Innovationen gefragt sind, und jedenfalls, wenn das Denken und Handeln einer neuen Richtung bedürfen, sind Intuitionen und Innovationen unerlässlich. Denken alleine bietet keine Garantie für das Schöpferische, weil sich auch das Denken mit Vorliebe in den Endlosschleifen konfektionierter Muster bewegt.

Die interessantesten Fragen lauten: Wie macht man sich auf die Spur einer erst potenziell vorhandenen Idee? Wie gewinnt eine Lösung Statur? Auf welchen Wegen findet ein Gedanke zur Form?

Was die aktuelle Wissenschaft dazu erforscht, sucht sie nicht in den Därmen, sondern in unserem „Nervenkostüm“. Im Solarplexus (also im Bauch!) erfährt dieses eine besondere Kulmination. Ob es wahr ist, dass sich bestimmte Gefühle im Bauchraum zuerst lokalisieren lassen, möge jede/r selbst überprüfen.

Denken mit dem Bauch also? In der Diktion eines Joseph Beuys rutsch dieses noch tiefer: „Ich denke sowieso mit dem Knie“, formulierte einer der am intensivsten reflektierenden Künstler des vergangenen Jahrhunderts. Aber für das „Denken mit dem Knie“ ist, wie für ein Verstehen des metaphorischen, „Intuitives“ erforderlich.

Kreativitätskiller Stress

Es ist unrichtig zu glauben, dass sich Intuition nicht einüben lässt, dass sie nicht kultivierbar ist, und es ist falsch, dass sie dem Denken widerspräche: „Der Zufall bevorzugt den vorbereiteten Geist“, das stammt immerhin von Blaise Pascal und damit von einem ausgewiesenen Naturwissenschaftler. Ich würde nur ergänzen: Mit dem Einfall verhält es sich ebenso! Das alles „funktioniert“ aber erst, nachdem man die Intuition aus der Ecke des Obskuren geholt hat.

Allerdings, es bleibt schwierig, die Intuition in ihren Wirkungsmechanismen genau zu beschreiben. (Aber glücklicherweise gelingt auch Denken ohne Verständnis für seine „Mechanik“.)

Leichter sind intuitionsfördernde Bedingungen beschreibbar: Auf die Bedeutung einer guten Fragestellung hat Einstein am deutlichsten hingewiesen, auf die Geduld Rilke. Renée Schröder bekommt die besten Einfälle unter der Dusche, wie sie auf der Österreichischen Wissenschaftstagung 2002 zum Thema des „Neuen“ verraten hat.

Lockerheit ist eine absolute Notwendigkeit, ein Szenenwechsel meist hilfreich. Die Ausweitung der Achtsamkeit auf das gesamte Wahrnehmungsfeld – auch das des Körpers (der „Bauch“ eingeschlossen) scheint noch ein Geheimtipp zu sein. Stress ist ein wirklicher Kreativitätskiller, dasselbe gilt für ein voreiliges Urteil. Schwebende Aufmerksamkeit ist vielfach beschrieben – vielleicht um zu finden, denn Picasso sagte von sich: „Ich suche nicht, ich finde.“

Eine Illusion muss ich allerdings auch dem „intuitionsgeübten“ Leser nehmen: Oft fängt die Arbeit erst so richtig mit der Intuition an. Das musste schon der deutsche Maler Anselm Feuerbach (1829 bis 1880) erfahren (übrigens ein Neffe des – wenig schwärmerischen – Philosophen Ludwig Feuerbach): „Ich fühlte nie wie jetzt, wie schwer und doch so leicht, wie erhaben und doch so kleinlich die Kunst ist; rasch und kühn ist der Gedanke, das geistige Bild, die Skizze da, man meint man wäre ein Gott; nun, wie man nur einen Pinselstrich tut, fühlt man, wie sachte und vorsichtig man beginnen muss.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2007)

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