Olympia 2008: In China ist „hartes Training“ normal

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In Chinas Sportschule Shichahai bereitet sich die Elite von morgen vor. Ein Besuch gewährte Einblicke.

PEKING. Die Turnerin im blauen Trikot ist kaum älter als acht Jahre, zierlich wie ein Vögelchen. Sie lächelt nicht. Ihre Trainerin hat ihr ein Stück Schaumstoff gegeben, das sie mit dem Kinn an den Hals presst. Mit diesem Trick soll die Kleine lernen, ihren Kopf zu senken, wenn sie sich um die Holme des Stufenbarrens schwingt. Als sie nach gestrecktem Überschlag auf der blauen Matte landet, ist ihr der Schaumstoff entglitten.

„Noch einmal“, sagt die Trainerin ruhig. Wortlos klaubt das Mädchen das schwammgroße Stück auf, klemmt es erneut unters Kinn und wiederholt die Übung ein ums andere Mal, ohne Pause, ohne nach rechts oder links zu schauen. Um es herum turnen ebenso unermüdlich Dutzende Mädchen und Jungen zwischen sechs und zwölf Jahren auf dem Schwebebalken, am Reck, am Boden und an den Ringen. Sie tun es in atemberaubender Perfektion.

Fünf Eliteschulen, 300 Zentren

Nicht spielerisch, sondern ruhig und professionell geht es hier, in der Pekinger „Shichahai“-Sportschule, zu. Die Kinder, die Tag für Tag unter der roten Fahne mit den fünf goldenen Sternen trainieren, gehören zur Elite des Nachwuchses, aus der einmal Weltmeister und Olympiasieger werden sollen.

„Fleißig trainieren im Kampf für die Olympischen Spiele 2008“ fordern weiße Schriftzeichen auf rotem Transparent unter den Fenstern der lichten Turnhalle. „Unsere Schüler üben jeden Nachmittag, etwa drei Stunden lang“, sagt die stellvertretende Leiterin, Shi Fenghua, „am Vormittag lernen sie in der Schule.“ Das Sport-Internat neben dem „Shichahai“, dem künstlichen See im Nordwesten der Verbotenen Stadt, gehört zu den fünf Elite-Sportschulen der Hauptstadt und den 300 Top-Trainingszentren in ganz China. Modern eingerichtet, mit Wohnheim und eigenem Hotel, ist es die Vorzeigeschule Pekings, die sich vor allem auf Turnen, Badminton, Tischtennis, Boxen, Volleyball und die traditionellen chinesischen Kampfsportarten spezialisiert.

Jet Li – Weltrekordler, Sieger

An den Wänden hängen Fotos strahlender junger Frauen und Männer mit Medaillen um den Hals. „32 von unseren Ehemaligen haben einen Weltrekord erzielt oder eine Olympiamedaille gewonnen“, sagt Vizedirektorin Shi stolz. „3000 prominente Persönlichkeiten habe wir ausgebildet.“ Dazu zählt sie Schauspieler wie Jet Li, der hier einst Kong Fu übte und mittlerweile zu den Stars des chinesischen Kinos gehört.

Schon bald wird sich, hofft Vizedirektorin Feng, die Foto-Reihe der Helden vergrößern: Bei den Spielen in Peking wird China voraussichtlich neben den USA die meisten Medaillen gewinnen. In Athen errangen die Chinesen nur vier Goldmedaillen weniger als die Sport-Supermacht USA.

Eine Schule, 80 Sportlehrer

Das „Shichahai“-Institut ist Teil eines Leistungssystems, das noch aus den alten Zeiten stammt und nach sowjetischem Vorbild aufgebaut wurde: 600 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 23 Jahren aus allen Teilen des riesigen chinesischen Reiches trainieren hier bei 80 Sportlehrern.

Manche haben bereits mehrere Jahre in Sportinternaten in den Provinzen hinter sich, bevor sie von der Shichahai-Schule aufgenommen werden. Einige werden von ehrgeizigen Eltern gebracht, die sich das Schulgeld von 2800 bis 3000 Euro pro Jahr leisten können. Andere wurden von Sportfunktionären entdeckt, die regelmäßig die Grundschulen und Kindergärten in allen Ecken des Landes nach erfolgversprechendem Nachwuchs durchforsten. Bis zu 400.000 Kinder trainieren in Sportschulen im ganzen Land. Die Besten schaffen es zum Nationalen Trainingszentrum in Peking: Nur wer hier aufgenommen wird, hat Chancen, an internationalen Wettbewerben teilzunehmen.

Geeigneter Körperbau

Damit unterscheidet sich Chinas Sportförderung deutlich von der in Europa, wo Talente in Sportklubs gefunden werden. Ein solches Vereinswesen gibt es in China nicht. In ärmeren Regionen können sich Mittelschulen nicht einmal Turnhallen leisten. In solchen Gegenden sind die Eltern froh, wenn ihre Kleinen vom Staat ausgebildet werden. Vizedirektorin Shi: „Wir schauen, ob die Kinder gesund sind, wie sie sich bewegen, und ob sie einen für unsere Sportarten geeigneten Körperbau haben.“ Diese Methode löst Kritik aus dem Ausland hervor. Chinas Kinder würden von brutalen Trainern unmenschlich gedrillt, heißt es. Die Funktionärin weist den Vorwurf zurück: „Wir behandeln die Kinder gut und bilden sie nach wissenschaftlichen Methoden aus.“

Was wahr an solchen Vorwürfen ist, lässt sich an diesem Tag nicht nachprüfen: Damit die Schüler „nicht gestört“ werden, erlauben die Betreuer den Journalisten nicht, mit den Kindern zu sprechen. Nur der 23-jährige Taekwondo-Kämpfer Duan Ribao, der sich bei Popmusik in der Kampfsport-Halle locker macht, darf Fragen beantworten. Misshandelt werde niemand, sagt er. Und: Hart zu trainieren sei normal. „Wir wollen siegen – für uns und für die Ehre unseres Landes.“

EIN VOLKSHELD SINGT

Knapp neuneinhalb Monate vor Beginn der Sommerspiele 2008 (8. bis 24. August) in Peking hat Filmstar Jackie Chan den offiziellen Countdown-Song für das Großereignis aufgenommen. Der Titel „Wir sind bereit“ wurde von Peter Kam komponiert, der 2006 in Berlin einen Silbernen Bären für die beste Filmmusik erhalten hatte. Der Song erscheint zunächst auf Mandarin, möglicherweise wird auch eine englische Version veröffentlicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2007)

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