Primatologie: Kindsmordende Affenweibchen

Bei einer Schimpansen-Gruppe in Uganda wurden mehrere Jungtiere getötet – offenbar eine Folge von Überbevölkerung und knappen Ressourcen.

Von einem „barbarischen Mord“ berichtete Jane Goodall 1976 in einem Brief aus Tansania: Sie hatte im Gombe-Nationalpark mit ansehen müssen, wie zwei Schimpansenweibchen – „Passion“ und „Pom“, Mutter und Tochter, – ein drittes Weibchen mit einem dreiwöchigen Jungen angriffen, ihm das Junge entrissen, es töteten und teilweise fraßen. Es blieb nicht das einzige Opfer: Das Mutter-Tochter-Paar tötete weitere drei Junge und versuchte es bei einem vierten, aber diesmal hielt Goodall es auf dem Beobachterposten nicht aus, sie schrie und warf Steine.

So etwas war zuvor nur einmal beobachtet worden, man vermutete eine Krankheit bei „Passion“ und „Pom“, denn die Tötung von Kindern („Infantizid“) durch Weibchen widersprach nicht nur allen Mutterbildern, es gab auch keine Erklärung dafür. Bei Männchen vieler Arten ist das anders, sie praktizieren Infantizid, wenn sie auf Weibchen mit Jungen treffen und sich paaren wollen: Erst einmal müssen die Weibchen in Paarungsstimmung versetzt werden – darin sind sie nicht, wenn und solange sie Junge zu versorgen haben –, und dann wollen die Männchen nur eigenen Nachwuchs. „Auch bei Primaten ist das üblich, bei Pavianen etwa“, berichtet Primatologe Klaus Zuberbühler (St. Andrews, Schottland) der „Presse“: „Man kennt es auch von Schimpansen, aber dort ist es selten.“

Das liegt an der Lebensweise: Heranreifende Paviane wandern aus ihren Geburtsgruppen ab und suchen Anschluss an andere Gruppen (dort töten sie). Bei Schimpansen hingegen gehen die Weibchen hinaus in die Welt, die Männchen bleiben. Und Männchen, die in ihren Gruppen bleiben, haben keinen Grund zum Infantizid – jedes der Jungen könnte ihr eigenes sein, Schimpansen-Männchen und -Weibchen sind promisk –, sie haben auch nichts gegen zuwandernde Weibchen, die kommen für gewöhnlich, wenn sie empfängnisbereit sind.

Wenig Kämpfer, kleines Territorium

Was können Schimpansen-Weibchen gegen die Jungen anderer Schimpansinnen haben? Generell gelten Primatenweibchen, die in Gruppen leben, eher als sozial, man kann es sogar der Größe der entsprechenden Hirnregionen ablesen, eine Gruppe um Charles Nunn (MPI Evolutionäre Anthropologie, Leipzig) hat es gerade getan und auch die Erwartung bestätigt, dass bei Männchen jene Areale größer sind, die zum Kämpfen befähigen (BMC Biology, 5:20). Aber diese Kampflust gilt anderen Männchen, gekämpft wird bei Schimpansen um Zweierlei: um Weibchen und – im Gruppenverband – um Territorien. Von den Männchen hängt ab, wie viel Territorium – Ressourcen – eine Gruppe halten kann.

Das steht offenbar hinter dem, was Zuberbühlers Mitarbeiter Simon Townsend und Katie Slocombe am 3.Februar 2006 in Uganda beobachteten: Sechs Schimpansinnen – teils junge Mütter mit angeklammerten Jungtieren – griffen eine Geschlechtsgenossin mit einem einwöchigen Jungen an, verletzten sie schwer und töteten das Junge.

Männchen waren am Töten nicht beteiligt, eines versuchte, sich den Angreiferinnen in den Weg zu stellen. Im März und Juli folgten ähnliche Überfälle, immer taten sich mehrere gegen eine zusammen – eine allein hätte keine Chance gegen eine Mutter, die ihr Junges verteidigt –, die Opfer waren zugewandert (Current Biology, 14.5.). „In der Gruppe gab es einen dramatischen demografischen Wandel, in den letzten fünf Jahren sind 13 Weibchen zugewandert, so dass auf ein Männchen drei Weibchen kamen“, berichtet Townsend: „Wir glauben, dass das den Druck auf die Weibchen erhöht hat.“ Welchen Druck? Sie brauchen Futter für ihre eigenen Jungen, können aber – mangels Kämpfern: Männchen – das Gruppen-Territorium nicht vergrößern.

MYTHOS KINDERMORD

Von Moses bis Romulus, von Krishna bis Jesus: Das Motiv vom angeordneten Kindermord ist weit verbreitet. Selten wird die Tötung vom Vater befohlen (etwa bei Ödipus), meist von einem grausamen Herrscher – z.B. dem Pharao, der alle neu-geborenen Buben der Hebräer töten lässt(2.Moses 2, 15-22), oder Herodes, der in Bethlehem alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten lässt (Matt.2, 13-18).

Der Held entkommt dem Anschlag, manchmal durch Flucht (z.B. nach Ägypten), oft durch Aufnahme in eine andere Familie (wie bei Moses). Ein Held ist, interpretiert Freud in „Der Mann Moses“, „wer sich mutig gegen seinen Vater erhoben hat“ – und schon in seiner „Urzeit“ gegen die „böse Absicht“ des Vaters gerettet wird.

In der griechischen Mythologie verschlingt Kronos alle seine Kinder gleich nach der Geburt, um zu verhindern, dass ihn eines entmachtet, wie er selbst seinen Vater Uranos entmannt hatte. Zeus entkommt Kronos mit Hilfe seiner Mutter Rhea. (tk)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2007)

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