Gerichtsmedizin: Ötzi, letztes Kapitel: Der Tod kam in Etappen

(c) AP (Augustin Ochsenreiter)
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Eduard Egarter-Vigl, Pathologe in Bozen, glaubt, die Akten des Eismannes schließen zu können.

„Der Mann hat einen Pfeil in der linken Schulter, dreht sich vermutlich um und sieht den Angreifer auf sich zukommen, der ihn wieder angreift, mit einer Waffe oder einem Stein. Vielleicht wird er von ihm umgestoßen, vielleicht fällt er von alleine, wie auch immer, er schlägt mit dem Schädel auf, auf der rechten Gesichtshälfte, wird bewusstlos. Jetzt liegt er auf dem Rücken, auf dem Pfeil, aber der Angreifer will den wiederhaben, er ist ein Identifikationsmerkmal. Er packt das Opfer am rechten Arm oder an der rechten Hand, dreht es herum, zieht den Pfeil heraus und flüchtet. Der Mann bleibt bewusstlos, hat einen enormen Blutverlust und stirbt in den nächsten Stunden.“

Das berichtet kein Krimiautor, sondern der Primar der Pathologie in Bozen, Eduard Egarter-Vigl. Er hat von Berufs wegen keine überschießende Fantasie, aber einen nüchternen Blick: Ihm fiel 2001 auf Röntgenbildern auf, was früheren Spezialisten zehn Jahre lang entgangen war: Ötzi, der Mann, der vor 5200 Jahren in das Eis des Gletschers geraten war und 1991 von ihm wieder freigegeben wurde, hatte in der linken Schulter eine frische Wunde von einem Pfeil.

Nun hat Egarter-Vigl den Eismann neuerlich mit einem Computertomografen geröntgt, dabei fanden sich neue Indizien, die sich zu eingangs geschildertem Bild runden. Die rechte Gesichtshälfte von Ötzi ist, anders als die linke, blau, dort finden sich auch Knochenbrüche. Die deutete man bisher als Druckbrüche – lange nach dem Tod, durch die Last des Eises –, für die Farbe hatte man keine Erklärung. Egarter-Vigl hat auch in der rechten Gesichtshälfte eine Weichteilschwellung diagnostiziert und bringt sie in Verbindung mit schon bekannten Prellungen und Blutungen im Gehirn: „Es handelt sich um ein Trauma, eine schwere Verletzung, die nie ohne Bewusstseinstrübung oder -verlust kommt.“

Pfeil aus lebendem Körper gezogen

Die Verletzung kam von einem Schlag des Angreifers oder davon, dass der Eismann zu Boden stürzte, mit dem Gesicht auf einen Stein. Er war bewusstlos, aber er war noch am Leben, Egarter-Vigl schließt das daraus, dass Blut in die Pfeilwunde schoss, nachdem der Pfeil entfernt war („Blutwurst“). Aber erst einmal musste er entfernt werden (können), offenbar lag der Verletzte auf dem Rücken und auf dem Pfeil, der Angreifer musste ihn umdrehen. Woher weiß der Pathologe das? „Aus der abnormen Position des linken Arms – unter dem Körper –, die wir uns sonst nicht erklären können.“

Ist das nun das endgültig letzte Wort? „Es wird schon Gegenstimmen und Zweifler geben, das ist auch berechtigt in unserem Metier. Aber die Röntgenbilder sind so überzeugend, dass schon Neues kommen müsste, um das Beweisgebilde zu erschüttern.“ jl

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2007)

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