Estland: Textilbranche im Todeskampf

Selbst Osteuropas Peripherie kann mit ostasiatischen Löhnen nicht mithalten.

NARVA. Estlands Textilindustrie steckt in einer Krise, die ihr Überleben bedroht. Kreenholm, der größte Arbeitgeber der Branche, kann seine Strom- und Wasser-Rechnungen nicht mehr bezahlen, die Stadtverwaltung im Standort Narva sperrt nur deshalb die Lieferungen nicht, weil man den schwedischen Eignern der Firma keinen Vorwand für die Schließung der Fabrik geben möchte. „Für die 3000 Arbeiterinnen gäbe es hier keine Jobs“, sagt der Stadtdirektor Tarmo Tammisto.

Hemden für ganze UdSSR

Kreenholm blickt auf eine 150-jährige Geschichte zurück: Zur Blütezeit beschäftigte das Unternehmen mehr als 10.000 Menschen und versorgte die ganze Sowjetunion mit Bettwäsche und Hemden. Doch nach der Wende kam die Krise. Design und Produktionsmethoden waren dem westlichen Markt, auf den Estland sich nun konzentrierte, nicht gewachsen. 1994 übernahm die schwedische Borås Wäfverier den Staatskonzern, modernisierte die Anlagen und reduzierte die Belegschaft radikal, um mit Heimtextilien in Westeuropa bestehen zu können.

Doch obwohl in der an der russischen Grenze gelegenen Provinz Ida-Viruma Estlands niedrigste Löhne gezahlt werden und die Textilarbeiterinnen selbst für dortige Verhältnisse arm dran sind, plagt Kreenholm eine Kostenkrise. Das Monatsgehalt einer Näherin lag im Vorjahr bei 4900 Kronen (320 Euro). Der estnische Durchschnittslohn betrug mehr als das Doppelte. Doch im Vergleich zur Konkurrenz, die in Kambodscha oder China fertigen lässt, sind die Löhne in Narva immer noch hoch.

Kreenholm wirbt mit dem Vorteil der „Marktnähe“, der das Unternehmen anpassungsfähig für Kundenwünsche mache. Mit diesem Argument versuchen sich viele Textil-Industrielle in Osteuropa Mut zu machen. Laut einer aktuellen Branchen-Studie der UniCredit können sich aber längerfristig allenfalls bulgarische und slowakische – letztere als Zulieferer zur Auto-Industrie – Überlebenschancen ausrechnen.

China ist noch viel billiger

Der Kostendruck ist jedenfalls enorm. „Die Spannen in der Textilbranche sind niedrig, wir haben Probleme mit Kunden, die ihre Rechnungen nicht bezahlen“, räumt Borås-Chef Thomas Widstrand Liquiditätsprobleme ein.

So blieben Strom- und Wasserrechnungen unbezahlt. Dem Stromversorger VKG Elektrivorgud schuldet Kreenholm umgerechnet 320.000 Euro, worauf dieser zur Drohung zeitweilig die Verbindung kappte. „Es ist nicht die Höhe der Summe, sondern der Unwillen, ein Abzahlungsabkommen einzugehen, der uns zu diesem Schritt zwingt“, so VKG-Chef Ahti Puur. „Es sieht so aus, als lege es Kreenholm darauf an, dass wir den Strom sperren.“

Die unbeglichene Rechnung für Wasserver- und Abwasserentsorgung beträgt gar eine Million Euro. Sie sei unberechtigt hoch, meint Widstrand: Das kommunale Wasserwerk habe die Tarife verdoppelt, „und das können wir nicht akzeptieren.“ Daher zahle man bis zu einer juristischen Klärung die alten Tarife weiter.

Minderheit spricht kein Estnisch

Dennoch erhält die Textilfabrik weiterhin Wasser. „Kreenholm sucht einen Sündenbock, auf den man die Schuld schieben kann, wenn man die Fabrik dicht macht,“ sagt Stadtdirektor Tammiste. „Doch wir sind nicht gewillt, diese Rolle zu spielen.“ Daher beauftragte er das Wasserwerk, mit den Lieferungen fortzusetzen. Für Narva ist Kreenholm nach den lokalen Energiewerken der zweitgrößte Arbeitgeber, und da die meisten Bewohner der von der russischen Bevölkerung dominierten Grenzstadt kaum estnisch sprechen, sind ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlecht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2007)

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