Jeder dritte Anatolier wandert ab

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Schieflage. Der Wohlstand in der Türkei ist extrem unterschiedlich verteilt.

ADANA/WIEN. Die Statistik kommt da einfach nicht nach. Durch die enorme Zuwanderung ist die Einwohnerzahl von Adana auf geschätzte 1,7 Millionen gestiegen, offizielle Zahlen weisen „nur“ 1,4 Millionen aus. Vor 25 Jahren war Adana noch eine Provinzstadt mit gerade einmal 100.000 Einwohner. Dieser enorme Sprung zur türkischen Nummer vier verdankt Adana der Zuwanderung. Anders als es Yasar Kemal in seinen Romanen beschrieben hat, lockt heute nicht mehr die Baumwoll- und Textil-Industrie die Menschen von den Bergen in die Çukurova-Ebene herab, sondern vielmehr eine florierende Obst- und Gemüse-Produktion sowie die Autoindustrie.

Adana ist einer von vier Migrations-Magneten der Türkei – neben Izmir, Antalya (mit der weltweit größten Dichte an Fünf-Stern-Hotels) sowie Istanbul. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist die Lage der ländlichen Regionen: Vor allem Zentral- und Nordostanatolien bluten immer mehr aus, junge Menschen verlassen in Massen ihre Heimatdörfer. Hauptgrund ist eine gewaltige wirtschaftliche Schieflage: Während in Istanbul das Pro-Kopf-Einkommen um ein Drittel höher ist als im EU-Mitgliedstaat Rumänien, ist es in Ostanatolien dreimal niedriger (siehe Grafik). In den letzten 30 Jahren ist einer von drei Anatoliern gen Westen gewandert. Zu der Wirtschaftsmigration kommt noch die Flucht vor Kampfhandlungen – so ist Istanbul heute die größte kurdische Stadt.

Die Metropole am Bosporus wächst in beinahe unglaublichem Tempo – täglich um rund 600 Menschen. Niemand weiß, ob die Stadt nun zehn, 15 oder gar schon 18 Millionen Einwohner hat. Was sicher ist: Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht in der Stadt geboten. Die meisten Zuwanderer leben in ärmlichen Vierteln – die sich direkt neben reichen, westlich geprägten Wohnblöcken und Hochhäusern befinden. „In Istanbul gibt es eine Oberschicht, die Materialismus im Exzess betreibt“, berichtet Çaglayan Çaligkan, Berater mit Büros in Wien und der Türkei. Gehälter in oberen Führungsebenen seien höher als in Wien.

Experten sind sich einig, dass die größte Herausforderung für die neue – alte – Regierung darin besteht, den enormen Wohlstandszuwachs gleichmäßiger zu verteilen: sowohl innerhalb der städtischen Bevölkerung als auch zwischen den Regionen. In den letzten fünf Jahren hat sich das Pro-Kopf-Einkommen der Türkei verdoppelt. Die Armutsrate ist zwar um ein Fünftel gesunken, trotzdem leben noch immer 20,5 Prozent der Menschen in Armut.

Integrative Kraft

Hoffnung gibt, dass sich laut Simon Quijano-Evans, dem Türkeiexperten der UniCredit, auch abseits von Istanbul eine neue Unternehmer-Elite herausbildet. Diese orientiere sich trotz konservativer Gesinnung an Europa, sagte er bei der Präsentation des Buches „Wirtschaftspartner Türkei“ (Orac-Wirtschaftspraxis) am Donnerstag in Wien. Für Koautor Willi Hemetsberger, Head of Global Markets der UniCredit, ist der Ausgang der Parlamentswahl das „beste aller möglichen Ergebnisse.“ Der Reformkurs könne weiter gehen – und zudem habe sich die AKP von Regierungschef Erdogan als eine integrative Kraft erwiesen, die die Widersprüche innerhalb der Türkei überbrücken könne.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2007)

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