Sozialsystem: Jeder sechste Amerikaner nicht krankenversichert

Nach dem Irak-Krieg ist die Krankenversicherung das politisch brisanteste Thema in den USA.

Washington. Seit Jahren sind sie die schlimmsten Feinde: Andrew Stern, der Chef der Dienstpersonal-Gewerkschaft SEIU, und Lee Scott, der knallharte Chef des Handelsriesen Wal-Mart. Doch vergangene Woche erstiegen die beiden in Washington das gleiche Podium und forderten gemeinsam ein „neues amerikanisches Krankenversicherungssystem“.

Eine staatliche Krankenversicherung, wie es sie in Kanada und den meisten EU-Ländern gibt, ist zwar nicht geplant, doch die Initianten finden, es sei jetzt an der Zeit, dass jeder Amerikaner bis zum Jahr 2010 eine „erschwingliche und qualitativ hochstehende“ Krankenversicherung erhalte. Heute sind 47 Mio. Amerikaner – ein Sechstel der Bevölkerung – ohne Krankenkasse.

„Das Thema einer fundamentalen Reform des Krankenversicherungswesens scheint plötzlich an die Spitze der nationalen Agenda gerückt zu sein“, schrieb das „Wall Street Journal“ vor kurzem. Zwölf Jahre nach dem gescheiterten Versuch von Bill und Hillary Clinton scheint eine Reform jetzt machbar und sogar dringend zu sein. „Damals glaubten die Unternehmen noch, sie könnten das Problem selber lösen, aber heute ist es klar geworden, dass es eine nationale Lösung braucht“, meint Gewerkschaftsboss Stern. Denn die Gesundheitskosten seien massiv gestiegen, und die US-Wirtschaft kämpfe heute mit Konkurrenten rund um den Globus.

Ohne Job keine Versicherung

„Jeder Politiker, der in seinen Wahlkreis zurückkehrt, wird mit zwei großen Beschwerden konfrontiert: Irak und die Krankenkasse“, meint Ron Wyden, ein Senator aus Oregon. Und viele Unternehmen beklagen sich, sie hätten Mühe, gegenüber der ausländischen Konkurrenz zu bestehen, denn diese müssen sich nicht um die Versicherung ihrer Angestellten kümmern. In den USA ist die Krankenversicherung traditionell vom Arbeitgeber abhängig: Wer eine Stelle annimmt, wird in die Krankenkasse des Arbeitgebers aufgenommen, und wer keine Stelle hat, steht im Regen. Dies ist der Hauptgrund, weshalb 15 Prozent der Amerikaner keine Krankenkasse haben.

Aber heute offerieren nur noch 77 Prozent aller Unternehmen ihren Angestellten eine Krankenkasse. Und in vielen Fällen ist diese Kasse so schlecht und teuer, dass die meisten Angestellten auf sie verzichten. Beim Handelskonzern Wal-Mart etwa benützt weniger als die Hälfte der Angestellten die firmeneigene Krankenkasse. Der Rest verlässt sich auf staatliche Programme zur Unterstützung der Armen.

Mehrere Bundesstaaten haben jetzt Gesetze verabschiedet, die vorschreiben, dass jeder Bürger versichert sein muss. Wer nicht zahlen kann, wird ein Stück weit vom Staat subventioniert. Und in Kalifornien werden Ärzte und Spitäler mit neuen Steuern zur Kasse gebeten. Die neuen Gesetze helfen vor allem jenen Unternehmen, die ihre eigenen Pflichten erfüllen, aber die Unversicherten anderswo im Staat bisher quersubventioniert haben. Ein Interesse an einer Reform haben aber auch die Versicherungsgesellschaften selbst. Denn viele US-Krankenkassen-Konzerne haben große Mühe, zu wachsen.

Illegale sollen auch einzahlen

Mit der von Gouverneur Arnold Schwarzenegger in Kalifornien geplanten Reform, die auch die illegalen Einwanderer einschließen will, könnten die Krankenkassen vier bis fünf Mio. neue Mitglieder gewinnen. Klar ist, dass die Arbeitgeber und Krankenkassen nicht zahlen, sondern profitieren wollen. Die Frage ist, wer die Kosten übernimmt, und ob es eines Tages gelingt, die massiv steigenden Kosten zu bremsen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2007)

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