Nolte: „Kapitalismus ist erfolgreich“

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Der deutsche Historiker Paul Nolte fordert mehr Selbst-verantwortung der Bürger.

Die Presse: Sie kritisieren die vaterlose Familie. Was ist denn so schlecht daran, dass Frauen auch ohne Kindesvater eine Familie selbstständig ernähren können? Vor 30 Jahren war das noch undenkbar.

Paul Nolte: Wenn sie selbstständig sein können, ist das wunderbar. Ich verweise nur auf die Kosten, die entstehen, wenn diese Bedingungen der Selbstständigkeit nicht gegeben sind. Bei über 50 Prozent der allein erziehenden Mütter in Deutschland muss dann eben doch durch staatliche Unterstützung eingreifen. Das ist unser großes Dilemma: Wir konnten den persönlichen Freiheitsgewinn nur durch massive Abhängigkeit von staatlichen Transfers erkaufen. Es fragt sich, wie man damit umgeht, wenn Kinder in solchen Familienstrukturen in relativer Armut aufwachsen und in der Schule benachteiligt sind. Im Mittelstand, wo das Modell der unabhängigen Lebensführung in Patchwork-Familien propagiert worden ist, funktioniert das relativ gut. In anderen sozialen Schichten aber nicht.

Aus Sicht vieler Jüngerer erscheint es rationaler, auf Kinder zu verzichten, um sich auf die Karriere konzentrieren zu können.

Nolte: Das ist eine Frage der ökonomischen Anreize – zum Beispiel über das Steuersystem oder die Schaffung von Ganztagesbetreuung von Kindern. Wenn es die Mehrheit der Menschen als rational ansehen sollte, keine Kinder mehr zu bekommen, müsste man das wohl akzeptieren. Auch wenn wir dann eine Schrumpfperspektive mit gesellschaftlichen Kosten hätten.

Haben wir das Problem, dass sich die Unterschichten in Deutschland und Österreich stärker vermehren als die Leistungsträger, weil sie durch das Sozialsystem höhere Anreize zum Kinderkriegen haben als zum Beispiel junge Akademiker?

Nolte: Da ist sicher was dran. Nur muss man nicht mit dem Finger auf die Unterschichten zeigen, die sich vermehren, sondern auf die Mittelschicht, die das nicht tut. In Deutschland bekommen Besserverdienende künftig einen größeren Teil ihres Einkommens während der Kinderpause ersetzt. Auch da wird diskutiert, ob das sozial ungerecht sei.

Sind Sie ein Kulturpessimist?

Nolte: Nein. Der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, ist das eine. Man muss aber auch Lösungen aufzeigen.

Und die wären?

Nolte: Eine Gesellschaft, in der nicht der Staat oder moralische Instanzen den Menschen zu einer bestimmten Lebensführung verpflichten, sondern ökonomische und moralische Anreize gegeben sind, damit mehr Menschen sich für Kinder entscheiden können.

Welche Länder sind Vorbilder?

Nolte: Es gibt kein einzelnes Land, wo man das Paradies einer neuen Gesellschaftsordnung vorfindet. An der großen Utopie des neuen Menschen ist ja auch die Sowjetunion gescheitert. Stattdessen müssen wir schauen, welche Lösungen es in den anderen Ländern für punktuelle Probleme gibt. Also: Wie funktioniert das in Frankreich mit Erwerbstätigkeit und Familie? Wie in Skandinavien mit den neuen Modellen des aktivierenden Sozialstaates? Wie vereint man in den USA eine liberale Gesellschaft mit starkem Gemeinschaftssinn?

Sind Karriere und Familie überhaupt vereinbar?

Nolte: Ja, wenn wir auch etwas am Erwerbsleben ändern. Wir erleben derzeit ja eine merkwürdige Polarisierung der Zeitökonomie: Den einen geht die Arbeit aus, sie werden arbeitslos oder auf prekäre Beschäftigung gesetzt. Bei den gut Ausgebildeten ist das genaue Gegenteil der Fall. Der Einzelne muss selbst entscheiden und sagen: Ich nutze die Chancen der Karriere zu Gunsten der Familie nicht voll aus.

Was meistens die Frau trifft.

Nolte: Stimmt. Das ist ein großes Problem. Uns muss bewusst werden, dass die Kinderfrage nicht ausschließlich eine Frauenfrage ist. Die Männer haben auch erst seit den Siebziger Jahren lernen müssen, dass sie selber einkaufen gehen können. Jetzt stehen sie an der Wursttheke, ohne dass ihnen das peinlich ist.

Sie haben zwei Kinder. Sind Sie in Karenz gegangen?

Nolte: Nein. Wir hatten das nicht nötig, weil wir aufgrund unserer privilegierten Berufssituation an der Universität die Arbeitszeit aufteilen konnten. Das sind Chancen, die viele Besserverdiener haben, im Gegensatz zu jenen, die in der Fabrik am Förderband stehen.

Sie schreiben, dass wir in Europa eine Gesellschaft der Transferempfänger geworden sind. Auch der Mittelstand bekommt Steuerzuckerln, etwa das Pendlerpauschale oder die Wohnbauförderung. Wie kommen wir von dieser Subventionssucht los?

Nolte: Es gibt auch Beispiele dafür, dass lieb gewonnene Subventionen der Mittelschicht wieder abgeschafft werden. In Deutschland etwa die Eigenheimzulage (deutsche Förderung des Wohneigentums, Anm. d. Red.), von dem nicht die wirklich sozial Bedürftigen profitiert haben. Oder das Kilometergeld.

In Mitteleuropa werden die Besserverdiener immer mehr zur Finanzierung des Sozialstaates herangezogen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Einkommensschwache, die von der Steuer befreit werden. Wie lange ist so ein System haltbar?

Nolte: So wäre es tatsächlich nicht mehr lange haltbar. Die Zahl der Transferempfänger kann sich nicht ins Grenzenlose erhöhen. Es ist keine Lösung, gleich alle Menschen zu Transferempfängern zu machen, indem man ihnen ein Grundeinkommen auszahlt. Da wäre ich ganz skeptisch. Ich bin auch kein Freund der Idee, Geringverdiener von allen Abgaben freizustellen. Das ist ganz schlecht, weil es den Eindruck vermittelt, man könne alles für sich behalten, und die Sozialleistungen würde jemand anderer bezahlen.

Was tun?

Nolte: Die Bürger müssen mehr Verantwortung für ihre eigene Vorsorge nehmen. Die soziale Sicherung der Zukunft wird ein Baustein-Modell sein: Ein Stück vom Staat, ein Stück privat finanziert.

Was offen lässt, wer künftig mehr be- und wer entlastet werden soll.

Nolte: Ob wir uns auf absehbare Zeit Entlastungen leisten können, weiß ich gar nicht. Für mich ist ein Staat erstrebenswert, der mit seinen Bürgern einen Vertrag darüber schließt, nur das auszugeben, was er einnimmt.

Gibt es eine Kapitalismuskrise?

Nolte: Nein, weil er erfolgreich ist und weltweit expandiert. Es gibt aber eine Krise seiner Glaubwürdigkeit. Die ist fundamental. Wir müssen zwischen intransparenten Abläufen im Finanzgeschäft und überzogenen Managergehältern einerseits und jener Wirkung des Kapitalismus andererseits unterscheiden, die uns alle wohlhabender macht. Finanztransaktionen sind den Menschen stets sehr suspekt gewesen – und doch gründet der Kapitalismus seit jeher auf ihnen.

Haben die Profiteure des Kapitalismus zu wenig erklärt, warum dieser für alle gut ist?

Nolte: Sie haben sich zu sehr in die Defensive drängen lassen und versuchen mit Müh und Not, die Höhe ihres Gehaltes zu rechtfertigen. Sie erklären aber nicht, warum wir alle von Wettbewerb profitieren. Und warum wir gegen Privatisierung in bestimmten Branchen Bedenken haben mögen – aber sich trotzdem niemand mehr das graue Telefon von der Bundespost mit der Wählscheibe zurück wünscht. Und warum wir nicht in staatlichen Einheitssupermärkten einkaufen wollen.

PAUL NOLTE: Die „Post-1968er“ erwachen

Generation Reform. Mit diesem Buch sorgte der 1963 Geborene vor drei Jahren für großes Aufsehen. Der Professor für neue Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin fordert darin eine neue bürgerliche Selbstverantwortung.

Seine wichtigste These: Die Post-1968er werden sich der Kosten bewusst, wenn Chancen weiter individualisiert werden (indem man sich für Konsum und gegen Kinder entscheidet), Risiken aber kollektiviert (vom Staat getragen).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2007)

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