Deutschland: „Weise“ warnen vor Reformstopp

AP
  • Drucken

Herbe Kritik am mangelnden Reformeifer der Großen Koalition.

Berlin.Angela Merkel verzog die Miene ein wenig säuerlich, als ihr die „fünf Weisen“ im Kanzleramt ihr Präsent überreichten. „Das Erreichte nicht verspielen“ lautet der Titel des mehr als 600 Seiten starken Konvoluts, das die Kanzlerin notgedrungen in die Kameras hielt. Dass sie einmal im Herbst ihre institutionalisierten Kritiker – allesamt honorige Wirtschaftsprofessoren– empfängt, gehört zum Ritual des Regierungsgeschäfts in Berlin. Zur guten Tradition gehört es auch, dass die professoralen Gutachter als Mahner auftreten.

Bert Rürup, der Vorsitzende des exklusiven Rats, warnte auch diesmal wieder vor einem Nachlassen des Reformeifers. Die Große Koalition sei dabei, wichtige Reformen zu verwässern, zurückzudrehen oder gar zu konterkarieren, kritisierte er und träufelte so Salz in die frischen Wunden des Regierungsbündnisses. Ein „klientelorientierter Aktionismus“ greife zunehmend Platz, heißt es im Gutachten. Der Chef der Wirtschaftsweisen reagierte damit auf die von der SPD angestoßene Debatte, die auf Ausnahmeregelungen bei der Rente mit 67 und auf eine Ausweitung des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitslose abzielt.

Zugleich monierte er, in der Reformpolitik sei ein konsequenter Kurs nicht erkennbar. Indirekt sparte er nicht mit Lob für die Endphase der rot-grünen Koalition, die mit ihren Reformen auf dem Arbeitsmarkt den Aufschwung unterstützt habe.

Steuersenkung empfohlen

Die schwarz-rote Regierung, so das Urteil der Experten, nutze die gute Konjunkturlage zu wenig, um weitere Reformen voranzutreiben. Probleme würden stattdessen ausgeblendet oder hintangestellt. Als Beispiel führen die Wirtschaftsweisen die Reduzierung der Staatsschulden, die Sanierung der Krankenkassen und die Neuordnung des Niedriglohnsektors an.

„Gerade im noch günstigen wirtschaftlichen Umfeld sollte die Politik die Weichen dafür stellen, die Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung zu sichern und auch in konjunkturell schwachen Zeiten handlungsfähig zu bleiben“, schreiben die Professoren der Regierung ins Stammbuch. Erneut empfehlen sie eine Steuersenkung.

So gemischt die Zensuren für die Politik ausfallen, so positiv stellt sich die wirtschaftliche Gesamtlage dar. Mit einer Rezession rechnen die Gutachter nicht, freilich mit einer Abschwächung der Dynamik. Gegenüber einem Plus von 2,6 Prozent im heurigen Jahr prognostizieren sie Deutschland für 2008 ein Wirtschaftswachstum von 1,9 Prozent. Globale Wirtschaftslokomotive bleibt weiterhin Asien, allen voran China.

Konjunkturmotor Konsum

Die Tendenz sinkender Arbeitslosigkeit in Deutschland hält demnach ebenfalls an– von einem Durchschnittswert von 3,8 Millionen Arbeitslosen heuer sinkt sie auf unter 3,5 Millionen im kommenden Jahr. Parallel dazu steigt der Konsum um 1,7 Prozent und löst den Export als Konjunkturmotor ab. Als Risikofaktoren betrachten die „Weisen“ die Finanzmarktkrise in den USA und die hochschnellenden Ölpreise.

AUF EINEN BLICK

Die fünf Wirtschaftsweisen beurteilen jeden Herbst die Politik der deutschen Regierung.

Bei noch guter Konjunktur sollte die Regierung die Weichen für Wachstum in schlechten Zeiten stellen, Staatsschulden reduzieren und Steuern senken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.