Ferne, so nah

Twin-City, Central Danube, Europa Region Mitte, Centrope: Wie viele Namen schwirren durch den Raum _ und was weiß man wirklich voneinander? "Die Welt hinter Wien": zum Auftakt einer "Spectrum"-Serie.

Die Gegend hat viele Namen und keinen. Vielleicht ist die Gegend auch keine Gegend und braucht überhaupt keinen Namen. Ihre Bewohner sprechen vier Staatssprachen und ungezählte sonstige Idiome. Die wenigsten unter ihnen würden sagen, dass die Gegend, von der ich erzähle, eine Gegend ist. Ein paar Leutchen mühen sich aber mit Benennungen. Beinahe im Wochentakt entdecke ich eine neue Lobby, Initiative, Institution oder Neigungsgruppe, die sich der Gegend annimmt, jenes mitteleuropäischen Zentralraums, der so ungefähr zwischen Alpen und Karpaten, zwischen Wien und Pressburg, zwischen Györ und Brünn behauptet wird, mal etwas weiter, mal etwas enger gefasst.

Diese engagierten Leute haben in den flachen Freiraum der Gegend einen Dschungel des Wordings, Brandings und Marketings gepflanzt: Twin-City, Central Danube, Europa Region Mitte, Centrope. Allen Initiativen ist gemein, dass sie von Wien ausgehen, sich als Netzwerke begreifen und doch in säuberlicher Parallelität nebeneinander her laufen. Den Österreichern sagen die erdachten Namen wenig, und den so wortreich eingemeindeten Ostlern sind sie vollkommen unbekannt.

Immerhin wird die Gegend zu einem Ort der Fantasie. Auf einer Bahnfahrt durch das Marchfeld hat mir eine Pensionistin gefallen, die sich über viele Jahre ihren eigenen Reim darauf gemacht hatte, was die englische Bahnhofansage bedeuten soll. Sie konnte kein Englisch und hätte auch nicht erwartet, dass Helmahof und Silberwald in der Weltsprache angekündigt werden. Bevor ein sprachkundiger Jugendfreund sie aufgeklärt hat, war sie all die Jahre der sicheren Meinung gewesen, dass die rätselhafte Lautkombination "next stop" nur eines bedeuten kann: Nächstdorf.

Bedingt durch Schengengrenze, Preisunterschiede und Verkehrsbarrieren haben alle in der Gegend siedelnden Stämme ihre höchst eigene Vorstellung davon, was nah und fern, was fremd und vertraut ist. So bestätigen Umfragen den Verdacht, dass die gefühlte Entfernung zwischen Wien und Pressburg weit größer ist als jene zwischen Pressburg und Wien. Viele Wiener wähnen Pressburg 100 bis 300 Kilometer entfernt, während fast jeder Pressburger die richtige Antwort gibt. Und sollte sie auch sonst kein Wort Deutsch verstehen, kommt jeder jungen Pressburgerin "Mariahilfer Straße" vollendet über die Lippen.

Auch wenn die Autobahn nicht fertig gestellt und die Brücke über den Grenzfluss March ein frommer Wunsch ist, kann ein Viertel der Österreicher die slowakische Hauptstadt innerhalb einer Stunde erreichen. Dennoch erhebe ich nicht den Vorwurf: Wie kann man noch nie dort gewesen sein! Dass der Österreicher London und San Daniele besser kennt als Pressburg und Pezinok, verschafft mir nämlich eine schwindelerregende Freiheit. Ab heute werde ich jede Woche eine kleine Geschichte erzählen, über Wiens nahen Osten, unerhörte Ausflugsziele und Verbrüderungs-Pleiten, über die Mythen der Markomannen, Hainburger und z¡horischen Zigeuner und über die schmerzend schönen Utopien der Megalopolen-Planer. Dass man in Centrope so wenig übereinander weiß, kann dem Geschichtenerzähler nur willkommen sein.

Den gewissen vorwurfsvollen Ton - wie kann man noch nie dort gewesen sein! - nehme ich mir auch deshalb nicht heraus, weil ich selber nicht viel anders war. Viele Jahre bin ich in Pressburg nur umgestiegen, um an Orte zu gelangen, die mir wirklich interessant, wirklich entlegen, wirklich rätselhaft erschienen - Kiew, Moldawien, die südukrainische Provinz.

Erst durch ein Experiment bin ich in Dev­nska Nov¡ Ves ansässig geworden, direkt an der Grenze zu Niederösterreich, die Kleinen Karpaten im Rücken und die Marchauen zu Füßen. Es sind 15 Kilometer in die Pressburger Altstadt und 35 an die Wiener Stadtgrenze. Das Experiment begann damit, dass mir zum wiederholten Male ein Umzug innerhalb Wiens bevorstand und ich lieber für eine Weile aus der Stadt wegziehen wollte, am liebsten in den Osten, in ein slawisches Land, aber mit bestmöglicher Anbindung an Wien. Dev­nska hat die Vorgaben erfüllt, innerhalb von 40 Minuten spuckt mich der Sprinter-Zug der ÖBB ins Wiener U-Bahn-Netz.

Weder meine Wiener noch meine Pressburger Freunde werden müde, den Kopf über meine Wahl zu schütteln: Für die Pressburger ist Dev­nska eine Arbeiter-Vorstadt, die unerträglich weit außerhalb liegt, für die Wiener ist Dev­nska einfach nur der Mond. Wenn mich aber irgendetwas zum Twin-City-Bürger gemacht hat, zum vielleicht einzigen Vertreter dieser Kopfgeburt von Spezies, dann ist es die geografische Lage meiner abgeschieden-zentralen Zwischenwelt. Nur aus dieser Mittellage heraus kann es einem natürlich vorkommen, einmal nach Wien, einmal nach Pressburg ins Theater zu fahren und beide Himmelsrichtungen als gleichwertig zu empfinden.

Als das Experiment geglückt war, bin ich geblieben. Wie in meiner Mostviertler Kindheit schaue ich den Wetterbericht von Niederösterreich - ich bin über ihn nicht hinausgekommen, jetzt trifft er schon wieder zu. Ich begann die Umgebung zu erkunden, auf der Suche nach Nahrung, nach Badeseen, nach Idyllen, nach Anziehendem und Abstoßendem. Und jetzt schreibe ich darüber.

Es scheint mir mindestens drei Stile zu geben, in denen über den Osten geschrieben wird: Habsburger-Nostalgie, Ostkitsch, Investoren-Pathos. Dass ich zur k. u. k.-Nostalgie nicht tauge, ist mir bei der Lektüre des Wahl-Galiziers Andrzej Stasiuk bewusst geworden. In seinem Europa-Essay "Logbuch" schildert er, wie er in der ungarischen Provinz mit einem unbekannten Narren Körte säuft. Der Pole und der Ungar verstehen die Sprache des anderen nicht, aber es ist der 18. August, und sie wissen beide, auf wen sie trinken - auf Kaisers Geburtstag. Der Österreicher in mir musste das Buch beschämt zur Seite legen - ich hätte nicht einmal gewusst, an welchem Tag der Kaiser Geburtstag hat.

Ostkitsch wiederum ist das vernichtendste Werturteil, das mein slowakischer Dichterfreund Michal Hvoreck½ zu vergeben hat. Da ich dieses Urteil im Innersten fürchte, habe ich ihn nie nach der genauen Bedeutung gefragt. Er meint wohl das Schwelgen in einer Romantik des Verfalls, der Armut und kommunistischer Relikte. Mit dem anhaltenden Boom der Beitrittsländer ist noch ein dritter Stil aufgekommen, das paneuropäische Pathos der Investoren, die ihre mit smoothen Anglizismen versetzten Businesspläne über eine Twin-City stülpen, deren Zugverbindung noch nicht einmal elektrifiziert ist.

Ohne gelegentlichen Anleihen gänzlich auszuweichen, will ich mich all dieser Stile fromm enthalten. Meine centropischen Spaziergänge sollen von Nutzen sein. Wer in meinen Feuilletons gute Gründe findet, warum er nie in die Gegend zu fahren braucht, ist mir als Leser wert und lieb. Ich erzähle einfach weiter und freue mich diebisch, dass niemand meine Angaben überprüft. Ja, eigentlich könnte ich Märchen erzählen. Märchen aus der Gegend. Märchen aus Nächstdorf.

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