Was es heißt, am Joch eines anderen Autors zu hängen. Eine Geschichte, die einem gar nicht gehört, in alle Verästelungen hinein nachzuempfinden. Bericht aus der Werkstatt des Übersetzers.
Erst letzthin erzählte mir eine Übersetzer-Kollegin, New Yorke rin, in Wien lebend, die ich schon seit 15 Jahren, aber nur übers Telefon oder Internet kenne, was ja auch für unseren Beruf ziemlich typisch ist - sie erzählte mir also, sie hätte einen "Job" abgeliefert, und erst als der Kunde gefragt hätte, wo denn "der Rest" sei, sei ihr aufgefallen, dass sie nur die Hälfte der Arbeit gemacht habe. Daraufhin meine Frage: "Hast du dir eigentlich jemals, bevor du eine Übersetzung angefangen hast, den Text vorher durchgelesen?" Ihre Antwort: "Nein, nie." Und mir geht's genauso. Das ist einfach so. Wir sind nicht unprofessionell, aber es ist schlechterdings ermüdend, den Text vorher zu lesen. Das Übersetzen verlangsamt den Lese- und Schreibprozess ganz ungeahnt. Da muss man sich irgendwie die Spannung wenigstens ein kleines bisschen erhalten.
Mit Neid denke ich an Leute wie die Kinderbuch-Vielschreiberin Enid Blyton, die angeblich jeden Tag 6000 Wörter Text produzierte. Direkt in die Maschine getippt. Wenn ich doch auch nur so übersetzen könnte! Nicht, dass ich nicht schon alles versucht hätte. Diktieren zum Beispiel. Aber nein, nix hilft. Wenn ich den Text vor mir sehe, ändere ich erst hier was, dann da was. Und dann dort noch was, und hier noch was, und das noch und dieses und jenes.
Nehmen wir einmal das Beispiel Katy Munger. Eine amerikanische Krimi-Autorin, von der ich drei Bücher für den Unionsverlag in Zürich übersetzt habe. Die Sachen sind ja nicht übermäßig kompliziert. Produkte einer amerikanischen professionellen Schreibe, die von amerikanischen professionellen Lektoren zurechtgetrimmt und durchgewalkt worden ist. Da gibt es keine losen Enden, keine heraushängenden Fäden, keine Unachtsamkeiten. Da steht jedes Wort am richtigen Ort. Ein durchaus industrielles Qualitätsprodukt. Das lässt sich nicht einmal vom nachlässigsten Übersetzer irgendwie mit links hinpfuschen. Aber so langsam und mühsam der ursprüngliche Schreibprozess gewesen sein mag - den man bei der Übersetzung ja nicht mitmachen muss, weil man von dem bereits fertigen Produkt ausgeht -, der Arbeitsprozess des Übersetzers läuft noch mehr in Zeitlupe ab. Bei Katy Mungers erstem Krimi, "Beinarbeit", war ich schon ungefähr zur Hälfte durch, als mir bei einer Szene plötzlich klar wurde, dass dies eine Autorin ist, die mir tatsächlich liegt. Sie liebt das Groteske, und ich liebe das Groteske. Und auf einmal war mir klar, wo ich ihre "Stimme" ansiedeln musste, wie ich diese Rolle, die ich da spielte - Tom Appleton als Katy Munger in der Verkleidung ihrer Heldin, der Privatdetektivin Casey Jones -, überhaupt "anlegen" musste.
Und natürlich gibt es Unmengen von Unterschieden zwischen Katy Munger, der Autorin, und mir, dem Übersetzer, die zusätzlich in den Text hineinspuken. So ist sie die etwas spät berufene Mutter einer jungen Tochter, ich bin bereits Großvater, sie ist Amerikanerin, ich weiß eigentlich sehr wenig über Amerika, obwohl ich selber kurioserweise, wie das Leben so spielt, Amerikanisch spreche. Immerhin war ich auch einmal zwei Wochen lang in Hawaii - wo Katy Munger geboren ist. Aber mein Background ist deutsch-persisch-neuseeländisch-österreichisch. Meine Städte heißen Berlin, Teheran, Bonn, Wellington, Wien, alles Hauptstädte. Katy Munger lebt in North Carolina, USA. Sie schreibt eine zeitgenössische amerikanische Schreibe, und ich, obwohl ich seit 40 Jahren professionell in deutscher Sprache schreibe, bin seit über 30 Jahren kaum einmal für mehr als ein oder zwei Tage nach Deutschland gekommen. Trotzdem meinte nachher ein Kollege, er könne (beim Lesen von "Beinarbeit") "nicht mehr unterscheiden, wo das Buch aufhört und wo Pro 7 anfängt". Ich schätze, er meinte das als Kompliment.
Ich habe mich natürlich einiger Tricks bedient. Zunächst einmal habe ich mir beim Übersetzen eingebildet, ich sei Helen Vita. Verstehen Sie mich nicht falsch. So meine ich das nun auch wieder nicht. Ich weiß selber, dass Helen Vita bereits tot ist. Ich meine natürlich - die lebendige Helen Vita, so, wie sie einst war, vor zig Jahren, die Sängerin des Hostessen-Songs ("Du zeig ihm Düsseldorf, ich zeig ihm Mainz") - die Schauspielerin, die einst "Josefine Mutzenbacher - Memoiren einer wienerischen Dirne" auf sechs Langspielplatten gelesen hat. Heute ein Sammlerstück, eine Rarität. Damit nicht genug, nahm ich noch Grethe Weiser hinzu, Hanne Wieder, Margo Lion, Valeska Gert, Trude Hesterberg, Edith Hancke, Hildegard Knef, den ganzen Tross. Ich habe mir einfach vorgestellt, ich sei das versammelte Tingeltangel der Fünfziger- und Sechzigerjahre in einer Person. Das unpolitische Caba-Reh. Gekennzeichnet durch eine Art grundsätzlich frivol gestimmter weiblicher Befindlichkeit, mit so einem frechen Zungenschlag, den es in der Form heute gar nicht mehr gibt - außer vielleicht bei Nina Hagen.
Das heißt, jeden Satz, den ich hinschrieb, habe ich anschließend auf seine Lesbarkeit durch eine imaginäre Helen Vita überprüft, weil ich zu allem Überfluss mir die Bücher bereits eine Stufe weiter - als Hörbücher - vorgestellt habe. Und auch weil alle amerikanische Literatur immer als gesprochene gedacht oder gehört und gelesen werden muss. Es gibt wenig Distanz zwischen amerikanischer Schrift- und gesprochener Sprache. Vielleicht aus diesem Grund erträgt das Amerikanische leichter die Wiederholung, das Deutsche tut sich damit schwer. Die Übersetzung erzwingt ständig Unmengen von "eleganten Abwechslungen" im Ausdruck. Und irgendwie gibt es immer ein Gewimmel von kleinem Fuzelzeugs, was im Text irgendwie so auftaucht und sich quer legt und irgendwie in einem lockeren Glissando überspielt werden muss. Die Eins-zu-eins-Übersetzung jedenfalls gibt es nicht, oder nur als wissenschaftliche Übertragung altägyptischer Texte mit zehn Fußnoten zu jedem Wort.
Die Texte von Katy Munger habe ich also sehr wohl in schriftstellerischer Unverantwortlichkeit an mich gerissen und bin mit ihnen durchgegangen. Ich habe - nur ein Beispiel unter vielen - Casey durchgängig von "Eisschrank" sprechen lassen, wo man doch im Normaldeutschen heute von "Kühlschrank" sprechen würde - nur weil so ein altertümliches Wort zu einer jüngeren Frau passen würde, die bei ihrem Großvater aufgewachsen ist. Ich habe - durchgängig - einen hyper-hippen Jargon über den Text verstreut, aber nur als Zuckerguss, als Signalfunktion. Darunter läuft ein ganz normaler deutscher Text ab, der auch in einem Neil-Postman-Buch von Reinhard Kaiser stehen könnte. (Wenn ich mich hier einmal kurz nach oben hin verbeugen darf.) Aber ich habe zugleich jedes Kapitel von zwei, drei, vier Kontroll-Lesern und vor allem Leserinnen durchchecken lassen, um sicherzugehen, dass ich nicht ganz in einen barocken Tonfall abdrifte, und vor allem, dass die Detektivin, Casey Jones, bei all dem Geturtel noch als Frau erkennbar bleibt.
Und es waren teilweise knallhart-nüchterne Kommentare, die da zurückkamen und mich zwangen, seitenweise Sätze zu ändern, dann wieder andere Sätze und immer so weiter. Beim letzten Titel, "Miststück", standen mir zwei ganz gegensätzliche Menschen als professionelle Mitleser zur Seite. Einerseits Petra, Tirolerin, erfahrene Sach-Übersetzerin und Frauen-Krimi-Liebhaberin. Sie zerzauste mir jedes Kapitel und schrieb oft ellenlang ganze Absätze in nüchternes, einfaches Krimideutsch um. Und andererseits Teddy, der als Diplom-Dolmetscher und Taxifahrer in Jean Pauls Bayreuth lebt und, vermutlich angesteckt vom Genius Loci, wie ein deutscher James Joyce (oder meinetwegen wie Arno Schmidt selber) ausschließlich in hypertroph überzeichneten Verbal-Hornungen schreibt. Er bastelte mir zu Katy Mungers Casey immer wieder einen kapitellangen Meta-Text, den man spaßeshalber einmal im Internet ausstellen könnte, der aber nur in Parts-per-billion-Dosierungen ins Buch hineinpasste. Teddy (ein sinnenfreudiger Lebemann, der sich selbst als "Verdauungsbürger" bezeichnet) ist wie ich ein Fan gewisser Autoren, vom Barock-Meister Johann Beer ("Narrenspital") bis zum verspielten Grotesk-Komiker Herzmanovsky-Orlando (mit seinem "Gaulschreck im Rosennetz"), und wir schätzen ähnliche Filme, wie "Serial Mom" oder "Coneheads". Trotzdem musste ich versuchen, Teddys rock-o-koketten Schwulst gegen die neusachliche Nüchternheit Petras auszutarieren, und dazwischen kam meine eigene, stark computergestützte flat-footed daily Schreibroutine zum Tragen, die täglich auch mit dem Text davonlaufen wollte.
Der Text versiebt und verschüttet sich auf diese Weise immer wieder - das erste Kapitel allein wanderte durch ein Dutzend Permutationen. Es ist wirklich unendlich schwer, am Joch eines anderen Autors oder einer anderen Autorin zu hängen. Eine Geschichte in alle Verästelungen hinein nachzuempfinden, die einem selber gar nicht gehört. In den ersten beiden Büchern verfolgte ich die Autorin mit bis zu 100 Fragen zum Text, unter anderem der, ob sie an einer bestimmten Stelle an Kleists "Zerbrochenen Krug" gedacht hätte. "Nein", lautete die lapidare Antwort. Ich habe aber, weil es eben ein deutsches Buch werden sollte - zumindest eins in deutscher Sprache - und weil ich mir das von "Helen Vita" gelesen gut vorstellen konnte, an dieser Stelle doch noch Kleists Richter Adam, den Urvater aller Krimi-Bösewichter, ganz leise mit hineingepfuscht, ohne dass man es freilich so richtig bemerkt. Umgekehrt gibt es im dritten Band der Serie eine Stelle, wo Caseys Handy ein unschönes Geräusch von sich gibt, und, so wahr ich hier stehe, an genau dieser Stelle flog meine Katze Cuddles - mittlerweile im Katzenhimmel - auf das Keyboard und produzierte eine zufällige Lautfolge, etwa wie "jjääpffxxttzh!!". Ich dachte: "Genau! So müsste das klingen. Wenn das Kätzchen an der Übersetzung mitarbeiten will, dann ist das ein Wink von oben. Dann lass' ich das so im Text stehen." Aber wie so viele andere meiner sprachlichen Exzesse - meiner wohldurchdachten Exzesse, wohlgemerkt - fiel auch diese Stelle dem Messer der Meta-Ebene - denn bei diesem Verlag wird noch lektoriert! - zum Opfer. (Trotzdem: schad'!)
Ein anderes Phänomen, das mir bei der Arbeit am dritten Band der Serie auffiel, ist, wie hier ins Metier der Übersetzer das berühmte Pfeil-Paradoxon von Xenon hereingezittert kommt. Man kennt es von Doktoranden, die nie mit ihrer Doktorarbeit fertig werden. Je näher man dem Ende einer Sache kommt, umso langsamer kommt man voran. Auch ich hatte oft schon das Problem, einen Text stundenlang und tagelang rauf und runter zu scrollen, Wörter zu ändern, Sätze zu ändern, Absätze zu ändern, aber keine Zeile neuen Text hinzuschreiben. Dann kommen andere Jobs dazwischen, die man des Geldverdienens wegen machen muss, und dies und das, und die Fertigstellung verzögert sich weiter. Dann schläft man einige Nächte nicht und hat trotz aller Anstrengung doch nur drei Seiten Text übersetzt. Auch der alte Trick, das letzte Kapitel schon mal vorneweg zu übersetzen, nützt nix. Nichts hilft, gegen Schluss wird alles unendlich mühsam. Erst wenn der letzte Absatz fertig übersetzt ist, überkommt einen das Gefühl der Befreiung, dieses Al-Gore-Lächeln, "Hurra, ich bin nicht Präsident geworden,", dieses "Hurra, ich hab's hinter mir". Obwohl gerade jetzt erst das allerletzte Gefummel am Text einsetzt. Aber psychologisch ist das der wichtige Moment, der es einem erlaubt, überhaupt noch weiter arbeiten zu können.
Nach drei Bänden der Serie - und ich denke der dritte ist mir schließlich besser gelungen als die ersten beiden, obwohl er mir sehr viel mehr Mühe bereitete - bleibt für mich ungelöst die große Rätselfrage: wie ein Autor jemals mehr als drei oder maximal vier Bände einer Serie schreiben kann. Aber: Meine Sorge soll es nicht sein. Ich werde sicher keinen vierten Casey-Jones-Band übersetzen, da bin ich mir so sicher wie Arthur Conan Doyle, der auch mehr als einmal versprach, nie wieder einen Sherlock Holmes zu schreiben. - Außer eben, wenn Helen Vita - ach was sag' ich denn da? Ich meine selbstverständlich: Nina Hagen! - zusagt, die Titel als Audio-Bücher zu lesen. Dann können die Herrschaften natürlich jederzeit wieder mit mir rechnen!