Migranten verlernen ihre Erstsprache

Migranten verlernen ihre Erstsprache
Migranten verlernen ihre Erstsprache(c) Clemens Fabry
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Nur 15 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund lernen in ihrer Erstsprache lesen und schreiben. Mehrsprachigkeit müsse stärker gefördert werden, fordern Experten.

Etwa 207.000 Kinder in Österreich wachsen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch auf. Die meisten von ihnen mit Türkisch oder Serbisch. Schulunterricht in ihrer Muttersprache erhielten im vergangenen Jahr allerdings nur 15 Prozent dieser Kinder. Das heißt: Nur ein Bruchteil von ihnen lernte lesen und schreiben in der Erstsprache.

Das Problem dabei: Viele Experten erachten die Beherrschung der Erstsprache in Wort und Schrift als Grundlage, um weitere Sprachen – hierzulande in erster Linie Deutsch – zu lernen. Diese Meinung – die in der bildungspolitischen Debatte nicht unumstritten ist – vertritt auch Sabine Schmölzer-Eibinger vom Germanistik-Institut der Universität Graz: „Ist das Fundament brüchig, ist jeder weitere Spracherwerb gefährdet“.

Angebot baut auf Freiwilligkeit

Seit dem Jahr 1992 gibt es in Österreich Lehrpläne für den sogenannten muttersprachlichen Unterricht. „Wir decken den Bedarf gut ab“, heißt es aus dem Unterrichtsministerium. Und das, obwohl die Statistik des Ministeriums zeigt, dass der Großteil der betroffenen Kinder keinen Muttersprachenunterricht bekommt. Am höchsten ist die Zahl der Lehrer (236), die solche Unterrichtsstunden (4492) anbieten, in Wien – mehr als fünf Mal so hoch wie im nächstfolgenden Bundesland Oberösterreich; auf Platz drei kommt die Steiermark.

Dass muttersprachlicher Unterricht in bildungspolitischen Überlegungen insgesamt stets nur eine randständige Rolle spiele, kritisiert Hans-Jürgen Krumm, der an der Universität Wien erforscht, wie Kinder Fremdsprachen lernen. In der Praxis wird muttersprachlicher Unterricht nämlich nur dann angeboten, wenn Lehrer ihn selbstständig als unverbindliche Übung oder als Freigegenstand organisieren. Zum Vergleich: Für Deutschförderung stellt das Ministerium 47 Millionen Euro und 400 Planstellen zur Verfügung. Auch muttersprachlicher Unterricht sollte als reguläres Fach angeboten und als gleichwertig mit anderen Fächern angesehen werden, fordert Krumm.

Integrative Konzepte schaffen

Durch seine Organisationsform als Freigegenstand ist erstsprachlicher Unterricht außerdem von den anderen Fächern völlig abgekoppelt. Nur teilweise wird dieser Gegenstand in Volksschulen integrativ etwa in Form von Team-Teaching durchgeführt. Genau diese integrative Variante sei aber die sinnvollste, sind sich die Experten einig. Auf jeden Fall sollten Erstsprachen- und Deutschlehrer enger kooperieren, indem sie zum Beispiel gleichzeitig dieselben Textsorten im Unterricht behandeln. So würden die Kinder auch lernen, die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen wahrzunehmen. Außerdem sollten Lehrern den Schülern in allen Fächern erlauben, bei Gruppenarbeiten die Erstsprache zu verwenden.

Auch der Sprachwissenschaftler Rudolf de Cillia von der Universität Wien warnt vor den Defiziten, die entstehen, wenn ein Kind nicht von klein auf in seiner Erstsprache gebildet wird. Denn die Lehrer würden das zumeist erst in der Oberstufe bemerken, wenn die Alltagssprache für das Verständnis des Unterrichts in den verschiedensten Fächern nicht mehr ausreicht. De Cillia geht aber noch einen Schritt weiter – und fordert, den muttersprachlichen Unterricht überhaupt nach dem Vorbild der slowenischsprachigen Schulen in Kärnten aufzubauen. „Jedes Kind hat das Recht auf die volle Ausbildung seiner Muttersprache.“

Serbisch bringt kein Prestige

Ein weiteres Problem für zweisprachige Kinder in Österreich: Nicht immer wird ihre Mehrsprachigkeit positiv bewertet. Krumm nennt das Phänomen „Sprachenrassismus“. Englisch und Französisch seien sehr prestigeträchtige Sprachen, spreche ein Kind aber fließend Serbisch oder Türkisch, werde das kaum geschätzt. „Es gibt in Österreich eine Elitenmehrsprachigkeit – und Armutsmehrsprachigkeit.“ Dabei sollte eigentlich klar sein, dass es sich bei beiden um wichtige Sprachen handle.

Und den Kindern bliebe ja auch nicht verborgen, wie ihr Umfeld auf ihre Zweisprachigkeit reagiert. In Tirol wurde Schülern etwa verboten, in der Pause Türkisch zu sprechen. „Das Verbot der Muttersprache ist ein schweres Trauma“, erklärt de Cillia. Durch ein solches Trauma würde die Muttersprache von den Kindern abgelehnt oder sogar verdrängt. „Ein Kind, das sich außerhalb der Schule sinnvoll verständigen kann, wird plötzlich ein defizitäres Kind“, kritisiert Krumm. Der erstsprachliche Unterricht könne dazu beitragen, „sprachliches Selbstbewusstsein“ zu vermitteln, sind sich die Experten einig. Dieses Selbstbewusstsein würde nicht zuletzt auch die Motivation in anderen Schulfächern steigern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2012)

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