Wir brauchen endlich eine echte Vision für dieses Europa

Das Strategiepapier von Ratspräsident Van Rompuy und seinen Mitautoren ist lediglich auf die Interessenwahrung der einzelnen Mitgliedstaaten bedacht.

Visionen für ein neues und besseres Europa sprießen derzeit wie die sprichwörtlichen Schwammerln aus dem Boden; und so unterschiedlich die Ansätze auch sind, haben sie doch eine Grundthese gemeinsam: Soll die Eurozone in ihrer jetzigen Form auf Dauer Bestand haben, warnen Finanzexperten, Wirtschaftsprofessoren und Politiker unisono, müssen zumindest die Staaten der Währungsunion künftig enger zusammenwachsen. In welchem Tempo das zu geschehen hat und ob gemeinsame Kontrolle vor gemeinsamer Haftung steht oder umgekehrt, darüber gibt es seit Beginn der Krise einen Streit zwischen wirtschaftlich prosperierenden Staaten und Schuldenländern. Dieser spitzt sich beim gestern begonnenen Gipfeltreffen in Brüssel mehr denn je auf eine Kontroverse zwischen Nord und Süd, zwischen Deutschland, den Niederlanden und Finnland auf der einen und Italien, Spanien und Frankreich auf der anderen Seite zu.

Die ewige Dissonanz stellt die Staats- und Regierungschefs vor eine anscheinend ausweglose Pattsituation, die letztlich durch ein visionäres Strategiepapier, wenn schon nicht beseitigt, so doch zumindest übermalt werden sollte. Beim letzten Ratstreffen Anfang März beauftragten Merkel und ihre Kollegen eine Vierergruppe aus Ratspräsident Herman Van Rompuy, Kommissionspräsident José Manuel Barroso, EZB-Präsident Mario Draghi und Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker, Pläne für einen langfristigen Neuaufbau der Staatengemeinschaft zu erstellen.

Nach Vorlage dieses Schriftstücks kann das Resümee nur lauten: Das Projekt ist gründlich missglückt. Auf den ersten Blick springt auch dem unbedarften Leser ins Auge, dass sich in dem Strategiepapier keine Visionen finden, sondern lediglich vorsichtig formulierte Absichtserklärungen wie jene zum Streitthema Eurobonds: „Mittelfristig könnte die Ausgabe von gemeinsamen Schulden als Element einer Fiskalunion entwickelt werden, abhängig vom Fortschritt der fiskalischen Integration“, heißt es lapidar. Das oberste Credo der vier Autoren kann nur gelautet haben, einen Spagat zwischen den Interessen der Nord- und Südländer zu schaffen, dabei aber keinen der 27 Staats- und Regierungschefs zu verärgern. So ist auch zu erklären, warum die erwarteten Vorschläge einer engeren Koordination in der Wirtschaftspolitik und Haushaltskontrolle nicht etwa auf eine Stärkung der Kommission als unabhängige Behörde hinauslaufen, sondern lediglich auf eine vertiefte Zusammenarbeit der ohnehin mächtigen Staatenlenker.

Dagegen bleiben die Verfasser dem verstörten Leser Vorschläge zur demokratischen Legitimierung einer weitgehenderen Integration beinahe gänzlich schuldig. Lediglich das knappe Bekenntnis, dass die „öffentliche Unterstützung für europäische Entscheidungen, die weitreichende Folgen für das Alltagsleben der Bürger haben“, grundlegend sei, ringen sich Van Rompuy und seine Mitautoren ab; konkrete Vorschläge sucht man vergeblich. Die vage Bezeugung zur Einbindung der nationalen Parlamente und des Europaparlaments in den Entscheidungsprozess ist da bei Weitem nicht genug.

Das Ziel der Verantwortlichen in Europa sollte sein, die Bürger in Zeiten der Schuldenkrise, die vielerorts Beklommenheit, Angst und Zweifel hervorruft, wieder für das Projekt einer übergeordneten Staatengemeinschaft zu begeistern. Nicht schwammig formulierte Absichtserklärungen, die bloß auf Interessenwahrung aller Beteiligten ausgerichtet sind, können dafür der richtige Weg sein. Im Gegenteil: Die Bürger wollen konkrete Pläne, wie das angeschlagene Schiff wieder aus dem Sturm geholt werden kann.

Stattdessen werden notwendige Reformen auf die lange Bank geschoben, weil diametral gegensätzliche Interessen die Gipfel der Staats- und Regierungschefs beherrschen und Kommissions- wie Ratspräsident zu schwach sind, um langfristige Lösungen auf den Weg zu bringen. Die Furcht vor dem Votum des Bürgers verschärft die dramatische Lage: Denn selbst die klügste Idee für ein neues, besseres Europa wird auf keinen fruchtbaren Boden fallen, wenn sie nicht mit dem Willen der Bevölkerung einhergeht.

E-Mails an: anna.gabriel@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2012)

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