Dass die Kanzlerin mit dem Wachstumspakt „erpresst“ werden konnte, verdankt sie ihrem treuen Mitstreiter Pofalla.
Berlin. Es war für Millionen Deutsche ein trauriger Abend: Wieder einmal hat Italien sie aus einem Fußballturnier geworfen. Italien und Spanien stehen im Finale der Euro 2012. Die Morgennachrichten über den EU-Gipfel klangen nach einer ähnlichen Niederlage: Angela Merkel beugte sich dem Druck der Italiener und Spanier. Das Ergebnis auch hier: ein 2:1. Das Veto der Kanzlerin gegen Eurobonds „solange ich lebe“ hat dieses Reizwort vorerst verbannt. Dem stehen zwei überraschende Treffer der „Südländer“ gegenüber: direkte Bankenhilfe aus dem Rettungsschirm ESM und aufgeweichte Bedingungen für Hilfen an Problemstaaten.
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles kommentierte fast mit Genugtuung, dass die Regierung ihre „rote Linie“ überschritten habe, womit sie leben könne. Tatsächlich hatte die Union gebetsmühlenartig wiederholt: „Haftung und Kontrolle gehören zusammen.“ Deshalb kam auch Freitagabend Fiskalpakt und ESM zusammen zur Abstimmung, die Stabilität der Finanzen mit der Solidarität für Krisenländer. Und deshalb war eine direkte Unterstützung von Banken aus dem Rettungsschirm ein Tabu, weil die Verträge ja zwischen Staaten und nicht mit Geldinstituten verhandelt wurden.
Vergeblich bemühte sich die Regierung nun zu versichern, auch mit den Banken würden „Konditionalitäten festgelegt“. Selbst die Einrichtung einer Bankenaufsicht bei der EZB, bei der die Vertreter der Bundesbank regelmäßig überstimmt werden, schafft in Deutschland wenig Vertrauen. Dass Staaten ohne zusätzliche Sparauflagen den ESM anzapfen können, verstärkt den Eindruck in der Öffentlichkeit: Die Krisenländer kommen leichter ans Geld der Deutschen und müssen weniger dafür tun. Für die „Welt“ ist das ein „bestürzendes Ergebnis“. Der liberale Abgeordnete Frank Schäffler spricht von einem „erneuten Dammbruch“. Die „FAZ“ sieht den „Weg in die Schuldenunion“ geebnet. Nur für die „Süddeutsche“ ist dieser Weg noch ein weiter.
Bundestag stimmte zu spät ab
Womit aber konnten die Premiers mit den leeren Taschen Merkel „erpressen“, wie es ein Brüsseler Diplomat formulierte? Sie drohten damit, den „Wachstumspakt“ platzen zu lassen, den Monti selbst vor einer Woche mit Merkel und Frankreichs Präsident Hollande beschlossen hatte. Wie so oft ist Deutschland dabei der größte Zahler, die Problemstaaten sind die größten Profiteure.
Deshalb ist der Pakt auch alles andere als ein Steckenpferd von Merkel. Erst auf Druck von Hollande und der deutschen Opposition, die auf den Zug aufsprang, hatte sich Berlin die ungeliebten Pläne zu eigen gemacht – und so abgeschliffen, dass von einem Konjunkturprogramm keynesianischen Umfangs wenig übrig blieb. Dass Monti und Rajoy dennoch Druck machen konnten, verdankt Merkel ausgerechnet ihrem getreuen Kanzleramtsminister Ronald Pofalla. Ihn hatte sie beauftragt, an der Heimatfront Fiskalpakt und ESM rasch unter Dach und Fach zu bringen, um beim nächsten Krisengipfel mit gestärktem Rücken verhandeln zu können. Doch Pofalla „vergaß“ darauf, SPD und Grüne einzubinden, die er für eine Zweidrittelmehrheit beim Fiskalpakt brauchte. Endlich saß man an einem Tisch und fand die gesichtswahrenden Zugeständnisse: den Wachstumspakt und die Finanztransaktionssteuer.
Doch Pofalla plauderte aus, dass die Steuer noch lange nicht kommen werde. Den Eindruck, man habe sie über den Tisch gezogen, ließen Rot und Grün nicht auf sich sitzen. Sie schraubten den Preis hoch und zogen die Verhandlungen in die Länge. Die Folge: Der Bundestag konnte nicht mehr rechtzeitig abstimmen. Beim Gipfel musste die Kanzlerin ein Debakel vermeiden: Ohne Wachstumspakt wäre auch der Fiskalpakt durchgefallen. Denn das Mantra der Opposition lautet: „Sparen und Wachstum müssen Hand in Hand gehen.“ Immerhin war nun die Zweidrittelmehrheit gesichert. Auch für den ESM: Die erwarteten 20 bis 30 „Abweichler“ unter den Abgeordneten sollten den Beschluss nicht gefährden können.
Beim Rettungsschirm ist das letzte Wort damit nicht gesprochen: Mehrere Verfassungsklagen, unter anderem von der Linkspartei, sollen unmittelbar folgen. Karlsruhe dürfte den ESM nach allgemeiner Einschätzung nicht kippen, aber die Einführung verzögert sich um mehrere Wochen. Erst nach dem Sanktus der Richter will Präsident Gauck das Gesetz unterschreiben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2012)