Ein kleiner Schnitt und seine großen Folgen

Ein deutsches Gericht will Juden und Moslems die rituelle Beschneidung verbieten. „Na endlich“, schallt es ihm entgegen. Warum so viele Emotionen? Und woher die Genugtuung?

Wäre man ein religiöser Mensch, die Sache wäre klar. Ein Staat erklärt eines der wichtigsten religionsstiftenden Rituale für illegal; er untersagt Taufen mit Wasser (wegen der Hygiene vielleicht) oder verbietet wegen der Alkoholprohibition die Wandlung von Wein ins Blut Christi: Logisch, dass Christen das als Schlag ins Gesicht empfänden. Schwieriger ist es jedoch draufzukommen, warum auch nicht religiöse Menschen zum Thema Beschneidung eine derart ausgeprägte Meinung haben. Warum es in wenigen Stunden tausende Postings dazu gegeben hat, die allermeisten davon zustimmend.

Ist es, weil man Kindern niemals Schmerz zufügen darf? Vielleicht. Aber so viel leidenschaftliches Mitgefühl würde man sich oft wünschen, wenn Kinder nebenan geschlagen, vernachlässigt, missbraucht, ihren Eltern entrissen oder in Schubhaft gesperrt werden.

Ist es wegen „der Natur“? Vielleicht. In den USA waren es tatsächlich die Hippies, die gegen die dort übliche Beschneidung aufbegehrten. Öko-Fundis wollen der Natur nicht ins Geschäft pfuschen und lehnen deswegen auch Kaiserschnitte, Flaschenmilch und Impfungen ab. Doch normalerweise ist das ein Minderheitenprogramm. Wer sich mit Muttermalentfernungen, Zeckenimpfungen, Zahnspangen, Tattoos und Ohrringen arrangieren kann, müsste auch den Verlust einer Vorhaut für verkraftbar halten.

Ist es wegen der Selbstbestimmung der Kinder? Vielleicht auch das. Aus radikal individualistischer Sicht ist es tatsächlich eine Zumutung, dass Eltern bestimmen, in welchem Milieu ihre Kinder aufwachsen, welche Normen ihnen dabei vermittelt und welche Gewohnheiten gepflegt werden. Ob ihre Eltern Punks oder Hells Angels, Workaholics oder depressiv sind: All das suchen sich Kinder ebenso wenig aus wie deren Gottglauben. Ja, das ist unfair und willkürlich. Wäre aber nur lösbar, indem man Kinder zwangskollektiviert. Will das wirklich irgendjemand?

Die gute Nachricht: Heranwachsend können sie sich aus dem Milieu, in das sie ungefragt eingepflanzt wurden, lösen. Kinder von Punks werden Workaholics, Kinder von Orthodoxen ungläubig – und umgekehrt. Zum Glück schließt keine Religion Männer ohne Vorhaut von vornherein aus, und Atheismus lässt sich beschnitten ebenfalls ganz gut leben.

Es gibt also tatsächlich Gründe, Beschneidungen für überflüssig zu halten. Wie es auch Gründe gibt, im Kopftuch Frauenfeindlichkeit zu erkennen und im Schächten von Tieren Tierquälerei. Doch die Leidenschaft, mit der sich Nichtbetroffene stets empören, wenn diese Themen auftauchen, steht in keinem Verhältnis zum Anlass. Was den Verdacht nährt, es gehe ihnen womöglich gar nicht vorrangig um Kinderrechte oder Frauenrechte oder Tierschutz. Sondern eher darum, „den anderen“ Grenzen aufzuzeigen und in ihre Schranken zu weisen. Sie als rückständig, archaisch, grausam zu punzieren und ihnen klarzumachen, was „hier bei uns“ geht und was nicht.

Religiöse Rituale dienen nicht nur Gott. Sie erfüllen, sogar für Ungläubige, auch eine weltliche Funktion. Mit ihnen zeigt man Zugehörigkeit, Verbundenheit miteinander, sie markieren, wer man ist, und dass man da ist.

Muslimischen Zuwanderern solche Markierungen zu verbieten ist schlimm genug. Wenn ein deutsches Gericht deutschen Juden solche Markierungen verbietet, unter anfeuerndem Applaus des Publikums – dann ist das unerträglich.


Reaktionen senden Sie bitte direkt an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.