Direkte Demokratie für mehr Bürgerbeteiligung

Österreich diskutiert über den stärkeren Ausbau plebiszitärer Entscheidungen - während die Schweiz damit bereits jahrhundertelange Erfahrung hat. Einige Erkenntnisse darüber, was die direkte Demokratie einer Gesellschaft bringt.

Man kann direkte Demokratie danach beurteilen, wie Volksentscheidungen ausfallen: Am Beispiel der Schweiz kommt man da nicht um das Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum im Jahr 1992 herum, oder um den abgelehnten, sofortigen EU-Beitritt 2001. Verweisen kann man auch auf das Volks-Ja zum Minarettverbot. Einseitige Auswahl, wird man entgegnen müssen, denn der gleiche Souverän, wie man das politisierende Volk in der Schweiz nennt, sagte im Jahr 2000 Ja zu den bilateralen Verträgen mit der EU, erweiterte diese im Jahr 2005 um die Abkommen von Schengen und Dublin, und führte die vorläufig etablierte Personenfreizügigkeit 2009 in ein dauerhaftes Projekt über.

Kein Land auf der ganzen Welt hat eine so reichhaltige Praxis der Demokratie durch Volksabstimmungen wie die Schweiz. Zur Anwendung gelangen sie auf allen Staatsebenen – in Gemeinden genauso wie in Städten, und in Kantonen fast noch stärker als im Bund. Die Politikwissenschaft klassiert die Schweiz zurecht als das umfassendste direktdemokratische System der Welt – mit hoher Aktualität und Geschichte.

Bei der Gründung des heutigen Bundesstaates 1848 wählte man, ganz nach amerikanischem Vorbild, noch die repräsentativ-demokratische Staatsordnung. In den Kantonen gab es jedoch schon zwei Vorbilder der direkten Demokratie: die Versammlungsdemokratie, namentlich in den kleinen konservativen Kantonen mit den Landsgemeinden, und die Abstimmungsdemokratie in den liberalen Gliedstaaten mit Volksentscheidungen.

Erhebliche Widerstände gegen den Eisenbahnbau führten in den 1860er-Jahren zu neuen Forderungen der Demokratisierung der jungen Demokratie. 1874 wurde die bestehende Volksentscheidung zu Totalrevisionen der Verfassungen durch ein Gesetzesreferendum erweitert, ein Veto gegen Parlamentsentscheidungen und 1891 kam die Volksinitiative hinzu, mit der man einzelne Paragrafen der Bundesverfassung ändern kann.

Innenpolitisch sind die direktdemokratischen Instrumente weitgehend unumstritten. Sie erfreuen sich einer regen Nutzung durch politische Kreise, und sie führen in der Regel zu vernünftigen, großmehrheitlich akzeptierten Entscheidungen. Umstrittener ist die direkte Demokratie in der Außenpolitik. Seit 1921 kennt die Schweiz ein rein defensives Staatsvertragsreferendum, wonach Abkommen mit dem Ausland der Volksabstimmung vorgelegt werden müssen, wenn 50.000 Bürger dies unterschriftlich verlangen. Gestalterisch ist das nicht, sodass man bis heute nach den Möglichkeiten vermehrter Demokratie in der Außenpolitik sucht.


Programm-Cocktail. Zu den Vorteilen direkter Demokratie zählt zunächst der gezielte Sachentscheid. Die Wahlen in Griechenland haben gezeigt, wie Regierungsbildung erschwert sein kann, wenn sie gleichzeitig auch Plebiszite sind. Die Schweiz hat das radikal entkoppelt: Wir wählen zwar alle vier Jahre unsere beiden Parlamentskammern, doch legt dies die Volks- und Kantonsvertreter nicht auf ein fixes Regierungsprogramm fest. Zwischen zwei Parlamentswahlen entscheiden die Stimmberechtigten auf bundesstaatlicher Ebene in rund 30 Sachfragen und mixen sich so einen Cocktail an Programmen zusammen, die alle für sich eine mehrheitliche Legitimation haben.

Innenpolitisch ist das weniger verbindlich als feste Koalitionsverträge, dafür flexibler. Genau das sichert die Legitimation des politischen Systems. Entsprechend sind Mehrheitswechsel im Konkordanzsystem selten, was politische Konflikte nicht verhindert, sie aber mäßigt. Direkte Demokratie abschaffen zu wollen, wäre für jede politische Gruppierung selbstmörderisch. Außenpolitisch erschwert direkte Demokratie supranationale Entscheidungen, denn Abkommen zwischen Regierungen müssen nicht nur durch das schweizerische Parlament, es kann gut sein, dass auch eine Volksabstimmung mit offenerem Ausgang verlangt wird.

Die Politik, die so entsteht, ist vor allem eines: bürgernäher. Etwa bei Staatsausgaben, bei denen in der Schweiz institutionalisierte Sparsamkeit regiert. Das haben zwischenzeitlich auch die meisten Politiker begriffen, sodass die Schweiz eine der wohl weltweit führenden Schuldenbremsen eingeführt hat – per Volksentscheid und einschränkender Wirkung auf Deals zwischen Parteien, beispielsweise in eigener Sache. Direkte Demokratie ist zudem anspruchsvoll, aber nicht unmöglich: So verfügt die Schweiz über eines der am besten ausgebauten Eisenbahnnetze der Welt – dank Volksabstimmungen. Denn was im Sinne der Konsumenten ist, geht bei Volksentscheidungen auch durch.


„Responsivere“ Politik. Das hat alles auch systemische Gründe: Der eigentliche Vorteil dauerhafter direkter Demokratie besteht in der Weiterentwicklung des parlamentarisch geprägten Entscheidungsprozesses! In der direkten Demokratie ist der Volkswille nicht nur eine diffuse Größe, auf die man sich bei Bedarf beruft; er manifestiert sich in verbindlichen Entscheidungen. Petitionen, wie es sie in der Schweiz auch gibt, waren Ursprung der direktdemokratischen Instrumente, die politisch bindende und damit auch stützende Kraft entwickelt haben. Regierung und Parlament sind dadurch „responsiver“ geworden: Denn wenn sie über die Köpfe der Bürger entscheiden, wie das jüngst bei Liberalisierungen des Energie- oder Gesundheitsbereiches einige Male vorgekommen ist, werden sie gebremst. Bisweilen sind Volksentscheidungen aber auch der Antrieb, der, wie in der Umweltpolitik, frühzeitig die Weichen Richtung ökologischer Politik stellte und rein ökonomisch ausgerichtete Programme rechtzeitig umlenkt. Wie die Migrationsfrage schließlich zeigt, muss auch dieser sozial sensible Politikbereich regelmäßig damit rechnen, indirekt- und direktdemokratisch mitgesteuert zu werden.

Einem verbreiteten Irrtum muss man dabei sofort entgegenwirken: Nicht jede Forderung, für die die nötigen Unterschriften gesammelt wurden, wird politische Realität. In jüngster Zeit passierte rund jede vierte Volksinitiative, und jedes zweite Veto scheiterte. Mit anderen Worten: Volksabstimmungen sind für Opponenten eine hohe Hürde, die vor allem dann übersprungen werden, wenn der von Behörden ignorierte Problemdruck hoch ist resp. wenn das Parlament Entscheidungen fällte, die bei einer Mehrzahl der Regierungsparteien keine Festigung gefunden haben.


Ein Viertel stimmt immer ab. Direkte Demokratie hat auch ihren Preis: Auch bei Weitem nicht alle Schweizer haben zu allen Themen und zu jedem Zeitpunkt eine feste Meinung. Am ehesten noch findet sich das mit weltanschaulichem Profil bei älteren und gebildeten Bürgern, während andere ihre Sachentscheidungen vor allem aufgrund ihrer Alltagserfahrungen fällen – oder passen. Die mittlere Stimmbeteiligung beträgt 45 Prozent, was gelegentlich als undemokratisch kritisiert wird. Dabei übersieht man, dass nicht immer die gleichen Stimmberechtigten mitentscheiden. Rund 25 Prozent der Bürger wirken bei jedem Volksentscheid mit, ebenso viele tun das nie. Die andere Hälfte beteiligt sich in Abhängigkeit von Betroffenheit und Stand der Meinungsbildung. Letzteres bedarf entwickelter Kampagnenfähigkeit, über die vor allem schweizweit verbreitete Gruppierungen wie SVP und SP verfügen. Doch sind auch sie auf Support von ihnen nahestehenden Organisationen wie Gewerkschaften oder Gewerbeverbänden angewiesen, wie dies in noch stärkerem Maße bei FDP und CVP mit Interessengruppen der (Außen-)Wirtschaft der Fall ist.

15 Millionen Franken kostet eine gesamtschweizerische Volksabstimmung; hinzurechnen muss man die Ausgaben der Parteien und Verbände für ihre Kampagnen. Wichtig ist dabei, dass Volksentscheidungen weniger anfällig sind für Käuflichkeit als z. B. Personenwahlen, die reichen Personen Tür und Tor zur Macht öffnen.

In ausgesprochenen Parteiendemokratien reagiert man in der Regel skeptisch auf Forderungen nach Demokratisierung der Demokratie. Denn für sie ist ein etabliertes Parteiensystem der Garant für Demokratie, gerade in der Abgrenzung zur Diktatur. Das mag in den ersten 40 Jahren der Nachkriegszeit auch so gewesen sein; den neuen Partizipationsbedürfnissen, die sich seit 1970 auch in etablierten Demokratien mit steigender Tendenz zeigen, kommen rigide Parteistrukturen mit Begünstigungen für die eigene Klientel und Bindungen der Zuschauer über personalisierte Politik indessen mehr entgegen.

Zum Autor

Claude Longchamp, Jahrgang 1957, ist Politikwissenschaftler und Historiker, lehrt an den Universitäten St. Gallen, Zürich und Bern Politikwissenschaft in der Praxis. Er leitet außerdem das Forschungsinstitut gfs.bern, das sich auf die Erforschung der direkten Demokratie konzentriert hat, und ist seit 1992 Wahl- und Abstimmungsanalytiker des staatlichen Schweizer Fernsehens.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2012)

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