„Barock, kraus, ungerad“

Ein „Stil der Zukunft“, ein „Schöpfungsbau für eine neue Epoche“ deutscher Baukunst hätte es werden sollen: Vor 90 Jahren wurde der Grundstein zu einem ersten Salzburger Festspielhaus gelegt. Realisiert wurde es nie. Chronik eines Scheiterns.

Am 19. August 2012 wird Franz Kafkas „Schloss“ bei den Salzburger Festspielen Premiere haben. Auch folgendes Bild könnte Kafkas Kosmos entstammen: ein würdevoller Festakt mit weihevollen Reden, die Grundsteinlegung zu einem gigantisch großen Haus von 160 Meter Länge und 50 Meter Höhe. Zwei der höchsten Repräsentanten von Staat und Kirche erteilen dem Grundstein jeweils drei symbolische Hammerschläge. Zahlreiche festlich gekleidete Gäste sind anwesend, Komponisten, der Bürgermeister, der Architekt, der Intendant. Danach: „Die distinguierten Herren geben sich in der nahen Fichtenallee einer Zapfenschlacht hin.“ Diese Szenen ereigneten sich tatsächlich: In Salzburg-Hellbrunn sollte Anfang der 1920er-Jahre ein riesiges Festspielhaus entstehen. Dabei geriet ein Fichtenzapfen ins gesunde Aug von Heinrich Damisch, einem der Mitgründer der Salzburger Festspiele. Seine Tochter erinnert sich: „Da er bereits an einem Auge nichts mehr sah, führte die Verletzung von der Zapfenschlacht zur vollkommenen Erblindung.“ Der Grundstein wurde am 19.August 1922 gelegt, auf den Tag genau 90 Jahre vor der Premiere von Kafkas „Schloss“. Die Kohärenzen zu Kafkas Romanfragment aus dem Jahre 1922 sind reiner Zufall.

Die Festspielgründer vor 90 Jahren rangen noch um eine permanente Spielstätte, 1922 war ein Festspielbezirk als schrittweise Adaptierung der fürsterzbischöflichen Stallungen noch nicht absehbar. Das erste Mozartfestspielhaus sollte bereits 1890 – nicht im Schatten des Mönchsbergs, sondern auf dem Plateau dieses zentral gelegenen, grünen Stadtbergs „fern vom Getriebe des profanen Lebens“ – entstehen. Salzburg wollte mit der „Fülle seiner Naturschönheiten“ punkten. Im Herbst 1916 war im Norden der Stadt eine Wiese unter der Wallfahrtskirche Maria Plain angedacht. Wesentlich konkreter wurde hingegen ein anderer Standort. Max Reinhardt schwärmte bereits in einer „Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses für Hellbrunn“ 1917 von diesem Ort „abseits vom städtischen Alltagsgetriebe“, „der durch natürliche und künstlerische Weihe so ausgezeichnet erscheint“.

Der äußerste Süden im Schlosspark der einstigen Villa Suburbana war landschaftlich besonders reizvoll. Fürsterzbischof Markus Sittikus von Hohenems hatte das Lustschloss 1613/1615 erbauen lassen. Hans Poelzig (Dresden) und Josef Hoffmann (Wien) wurden 1919 „zur Ausarbeitung von Ideenprojekten“ eingeladen, nur der deutsche Architekt übermittelte Pläne. Hans Poelzig (1869 bis 1936) hatte für Max Reinhardt das 1919 eröffnete Große Schauspielhaus in Berlin geplant. Dieser erste repräsentative Bau der jungen Republik erschien vielen – so Wolfgang Pehnt – als „exotische Blüte im grauen Panorama der Nachkriegszeit“.

Mit Gebilden der Fantasie bepflanzt

Reinhardts Forderung, dass Bühne und Zuschauerraum ineinandergreifen, beherzigte Poelzig auch in Salzburg. 19 Meter hätte sich Vorbühne respektive Orchestra – beide höhenverstellbar – in den Zuschauerraum geschoben.Im August 1920 präsentierte Poelzig sein Projekt und kommentierte: Der Künstler „denkt an nichts als an die Möglichkeit, wie er dieses Stück Land mit Gebilden seiner Fantasie bepflanzen kann“, und „versucht dann erst, seine Gebilde auf das Niveau zurückzuschrauben, auf dem das heutige Leben sich bewegt“. Die geforderten drei Hauptfunktionen – Großes Festspielhaus für 2000 und Kleines Festspielhaus für 800 Personen sowie ein abgerücktes, leistungsfähiges Restaurantgebäude – interpretierte er als künstliche Berge in direkter Nachbarschaft zum Hellbrunner Berg. Die Salzburger Festspielhaus-Gemeinde hatte gefordert, die „Voralpenlandschaft mit ihrem besonderen Rhythmus von weit ausschwingendem Tal und scharf profilierten Berg-Individualitäten“ zu beachten. Der Architekt schöpfte aus Vergangenheit und konkretem Ort. Das berühmte Steintheater aus dem frühen 17. Jahrhundert und die Grotten von Hellbrunn konnten in Poelzigs spezifischer Interpretation als grottenartige Höhle oder künstliche Landschaft anklingen.

Als zweite „Dominante“ verwies Poelzig auf „das Salzburger Barock“ als „die architektonische Hauptnote der nahen Stadt“. Salzburg erschien Poelzig als „deutsche Stadt, weit nach Süden gerückt, vom Süden wohl beeinflusst, aber doch deutsch, da sie barock ist, nicht im rein stilistisch bestimmten Sinne, sondern in der Auffassung der Kunst. Alle deutsche Kunst ist mehr oder weniger barock, kraus, ungerad, unakademisch, von der romanischen Zeit über die deutsche Gotik bis zum Rokoko.“ Bereits 1918 prägten Rokoko-Assoziationen sein Projekt für ein Mozarttheater in Dresden, seine Barockbezüge waren nicht spezifisch salzburgisch. Der Zwinger in Dresden als barockes Gesamtkunstwerk inspirierte den Entwurf für Hellbrunn, der mit der asymmetrischen Gliederung und dem organischen Landschaftsbezug gleichzeitig ein originäres Werk darstellt. Poelzig bettete das begehbare, kaskadenartig terrassierte Große Haus mit einem Netz an Wandelgängen und Pavillons als Knoten-Begrenzungspunkte in die ansteigende Topografie ein.

Poelzig wollte nicht weniger als einen „Schöpfungsbau“ für „eine neue Epoche“ der Baukunst und „bildenden Kunst in deutschen Ländern“ generieren. Die Suche nach einem nationalen Stil beschäftigte die deutschen Baukünstler nicht erst in dem vom Ersten Weltkrieg zerrütteten Land, sondern bereits davor. Die Architekten der unterschiedlich ausgerichteten Reformbewegungen verdammten einstimmig den Historismus als Eklektizismus und auch den Jugendstil, ihr Spektrum an Vorschlägen zur baukulturellen Erneuerung war allerdings groß. Sehr erfolgreich war Walter Curt Behrendt 1908 mit dem Buch „Um 1800“. Er stimmte ein Loblied auf den Klassizismus an als „das natürliche Ergebnis einer Kunstströmung“, die sich „vor den auflösenden Tendenzen des Barockstils zu retten“ suchte: „Die moderne klassizistische Kunstströmung“ entsprang „einer gesunden Reaktion gegen die falsche Prunksucht.“

Poelzig replizierte in einer Rede in Salzburg auf Behrendt: Die „philologisch historisch geschulten Stilprediger sagen, man müsse so tun, wie in der Zeit vor 100 Jahren und sich in den Klassizismus retten, oder einen Stil der armen Leute predigen, da wir es doch nun einmal geworden seien. Nein – und abermals nein, sage ich! Schaffen wir in Trotz und Freudigkeit auf die Zukunft einen Stil der Zukunft, wie es einem starken Volke ziemt.“ Poelzig verband den Triumph des Subjektivismus und den künstlerisch freien Ausdruck mit dem deutschen Barock, den die Kunstwissenschaft seit den 1910er-Jahren ebenfalls wieder positiv konnotierte.

Das Projekt wurde in zwei Etappen schließlich 1922 auf ein Großes Haus für Oper, Schauspiel und Konzert für 3000 Zuschauer reduziert, das Freilichttheater blieb. Das „Amphitheater-Parterre“ sollte 2000, drei „Zuschauerringe“ und zwei Galerien 1000 Menschen fassen. Die Dynamik wich dem versachlichten, ellipsenförmigen Raum. Das 1920 von „Rokoko-Flammen“ umspielte Gebilde, das – außen begehbar – aus dem Gelände wuchs, überarbeitete Poelzig zum strengen, mächtigen, von der Kegelpyramide des Zuschauerraums dominierten Baukörper. Dem Durchmesser der gewaltigen Kuppel des antiken Pantheons in Rom von etwa 43,5 Metern entsprach die Auditoriumsbreite in Salzburg, dessen Länge vom hintersten Platz im Parterre zum Eisernen Vorhang sogar 55 Meter betragen hätte. Der Kuppeldurchmesser der Breslauer Jahrhunderthalle, die 1913 mit einem von Max Reinhardt inszenierten Festspiel eröffnet hatte, erreichte 65 Meter Spannweite. Diese Pionierleistung des Stahlbetonbaus war damals weltweit die größte ihrer Art und das konstruktive Vorbild für Salzburg.

Ein Grundstein, der verschollen ist

Im dritten Salzburger Festspielsommer – am 19. August 1922 – wurde feierlich der Grundstein für das Festspielhaus in Hellbrunn gelegt. Bundespräsident Michael Hainisch und der Salzburger Fürsterzbischof Ignaz Rieder taten jeweils die drei symbolischen Hammerschläge auf den Grundstein, der heute verschollenen ist. Das 160 mal 110 Meter große Projekt blieb – ohne die erhoffte, internationale Finanzierungshilfe, dramatisch verschärft durch die Inflation – Papier.

Der Kunstkritiker und Schriftsteller Josef August Lux, anfänglich ein vehementer Hellbrunn-Propagandist, kritisierte ab 1921 sowohl Poelzigs Projekt als „Vernichtung Hellbrunns“ wie auch das Ansinnen der Festspielhaus-Gemeinde, die Felsenreitschule durch ein stützenfreies Dach zur wetterfesten Spielstätte zu machen. Die problematische Komplettüberdachung des Hofs mit den eindrucksvollen, 1693 von Johann Bernhard Fischer von Erlach in den Berg geschnittenen 96 Zuschauerlogen wurde als temporäre Lösung angekündigt. Als Alternative propagierte Lux den „grandiosen gedeckten Raum“ der benachbarten großen Winterreitschule (heute in etwa der Bereich des Hauses für Mozart). Max Reinhardt akzeptierte schließlich diese Adaptierung. Architekt und Landeskonservator Eduard Hütter erfüllte 1925 Reinhardts Forderungen, den Dachstuhl teilweise zu heben und einen Eisernen Vorhang zu vermeiden. Unzulänglichkeiten wie lautes Regenprasseln durch den offenen Dachstuhl und schlechte Sichtverhältnisse führten zu Clemens Holzmeisters Umbau 1926. Dieser ist „an Stelle von Poelzigs genialem Projekt zur Ausführung gelangt“, kommentierte der Architekturkritiker Walter Müller-Wulckow 1929 trocken die Entwicklung. Salzburg behielt Poelzigs außergewöhnliches, aber keineswegs unumstrittenes Projekt nur als überdimensionales Kuriosum in Erinnerung. Es begründete zwar keinen „Stil der Zukunft“, ging aber in die Architekturgeschichte des Expressionismus ein, bereicherte sie um eine einzigartige Facette. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2012)

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