Tirol ist kein Gebiet, Niederösterreich schon

Die Insel Ikaria könne zu Österreich kommen, schrieb „Heute“. Alle dementieren, aber ihren Reiz hätte diese Osterweiterung.

Die Insel des Ikarus wird nie und nimmer das zehnte Bundesland von Österreich.“ Das beschied uns der Wiener Reiseveranstalter Leonidas Kades via „Kurier“. Die U-Bahn-Zeitung „Heute“ indessen, die die sommerliche Idee aufgebracht hatte, blieb dabei: „Griechische Insel: ,Beitritt möglich‘“, schrieb sie am Mittwoch trotzig.

Die Austrifizierung der übrigens kommunistisch regierten Insel Ikaria mag völkerrechtlich heikel, unmöglich oder gar indiskutabel sein (siehe Seite 8), die Idee aber ist faszinierend. Schon weil Österreich nach einem solchen Anschluss kein in sich geschlossenes Gebilde mehr wäre, kein Gebiet, wie die Mathematiker sagen. Denn, wie uns der derzeit zwar nicht in Ikaria, aber in Kärnten weilende Rudolf Taschner erklärt: Wenn es in einem Raum zwei Punkte gibt, die man nicht verbinden kann, ohne den Raum zu verlassen, ist er kein Gebiet.

Es hat seinen Reiz, wenn der eigene Staat kein Gebiet ist. Den US-Bürgern würde wohl ohne Alaska und Hawaii etwas fehlen, selbst wenn sie nicht vorhaben, je dorthin zu reisen. Auch Russland ist kein Gebiet, zur Freude der russischen Kantianer, die sich in Königsberg vulgo Kaliningrad heimisch fühlen; bei Italien ist es fraglich, kommt darauf an, ob das Meer zwischen Sardinien und dem Hauptland zu Italien zählt.

Es ist ja auch unter den vielen Besonderheiten Tirols, dass es im mathematischen Sinn kein Gebiet ist, wenn man es als Bundesland Österreichs sieht: Man kommt nicht von Osttirol nach Nordtirol, ohne das Bundesland Tirol zu verlassen. Zählt man aber Südtirol zu Tirol, dann sind Ost- und Nordtirol verbunden, und die drei sind miteinander ein Gebiet. Der mangelnde Zusammenhang des Bundeslandes kann auch böse Folgen haben: Der Agrarmarketing Tirol ist es passiert, dass in ihrer Zeitschrift „Almleben“ eine Tirolkarte ohne Osttirol abgedruckt war; die aufgebrachten Osttiroler konnten nur durch das Versprechen massiver Bewerbung ihres Schafalmwandertages versöhnt werden.

Niederösterreich ist, wenn's interessiert, sehr wohl ein Gebiet, allerdings nicht einfach zusammenhängend, denn es hat ein Loch, das von Wien eingenommen wird. Wenn sich die „Vatikanlösung“ des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk durchgesetzt hätte und das niederösterreichische Regierungsviertel in der Wiener Herrengasse zu Niederösterreich gekommen wäre, dann wäre es heute kein Gebiet, Wien hätte ein Loch, und ein Spaziergang durch den ersten Bezirk wäre ein topologisches Abenteuer.

Mir persönlich sind diese Unterscheidungen wichtig, weil ich großen Wert darauf lege, dass ich in meinem bisherigen Leben Europa nicht verlassen habe, obwohl ich einmal in Südamerika einem Raketenstart (übrigens einer europäischen Rakete mit dem schönen Namen Ariane) beigewohnt habe. Das war nämlich in Französisch-Guayana, und das gehört zu Frankreich und folglich zu Europa, oder?

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2012)

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