Ukraine: Auf den Fußballtaumel folgt ein heißer Herbst

(c) EPA (Dmitriy Khrupov)
  • Drucken

Wenige Wochen nach dem Ende der Fußball-EM sind in der Ukraine die Vorbereitungen zur Parlamentswahl angelaufen. Alle Parteien kämpfen gegen den Verdruss der Wähler an

Die Verfechter der Volksherrschaft, die mit dem oftmals überstrapazierten Synonym der Demokratie nur unzureichend wiedergegeben wird, stehen vor einem ewigen Dilemma: Einerseits die Größe zu haben, einen Wahlentscheid auch dann zu akzeptieren, wenn der Sieger lediglich die Regeln der Mehrheitsermittlung, nicht aber die eigene Weltanschauung teilt; andererseits den Anfängen zu wehren und die Prinzipien der Demokratie hochzuhalten, wenn diese von Andersdenkenden unterminiert zu werden drohen.

In der Frage, ob in der einst wegen der Orangen Revolution 2004/2005 im Westen so gehypten Ukraine, Europas größtem Flächenstaat mit 46 Millionen Einwohnern, demokratisch Hopfen und Malz verloren sind, gehen die Einschätzungen auseinander. Immerhin sei die Demokratie bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht diskreditiert, argumentiert Andrej Bytschenko vom Kiewer Forschungszentrum Razumkow: Das könne angesichts des demokratiefeindlichen Mainstreams in anderen GUS-Ländern nicht oft genug betont werden.
Beim Prinzip der Gewaltentrennung jedenfalls, so kann man zumindest rückblickend feststellen, wurde den Anfängen der Erosion auch in der Ukraine nicht gewehrt. Die Rasanz, mit welcher der im Ausland nun gemiedene Präsident Viktor Janukowitsch nach dem Wahlsieg 2010 die staatlichen Institutionen seinem Diktat unterworfen und seine Gegner der früheren Jahre sogar mittels Inhaftierungen kaltstellen ließ, lässt selbst sein Pendant im Moskauer Kreml vor Neid erblassen.
Erfolgreich laut Karl Popper

Etwas weniger eindeutig sieht es mit dem Prinzip des möglichen Machtwechsels aus. Eine Regierung abwählen zu können, gilt ja laut Karl Popper als eines der ureigensten Kennzeichen von Demokratie. Darin war - wie paradox das heute auch anmuten mag - gerade die Ukraine wiederholt erfolgreich. Und deshalb könnte der ukrainische Herbst in dieser Hinsicht abermals aufregender werden als so manches EM-Spiel.

Im Oktober wird ein neues Parlament ermittelt. Was an anderen Orten oder zu anderen Zeiten einer routinemäßigen Bürgerpflicht gleichkommt, wird in der Ukraine zum Moment der Wahrheit. Sichert sich Janukowitsch eine Mehrheit, bedeutet das eine auf Jahre fortgeschriebene Isolierung von außen. Gewinnt er nicht, bedeutet dies zumindest eine potenzielle Wiederherstellung eines innenpolitischen Kräftegleichgewichts, auf dessen Grundlage die Gewaltentrennung eine neue Chance erhalten könnte.
Wie viel auf dem Spiel steht, ist an einigen Fakten ablesbar: Die charismatische Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko als Oppositionsführerin für sieben Jahre wegen Amtsmissbrauchs hinter Gitter zu stecken, weil sie 2009 einen unvorteilhaften Gasvertrag mit Russland ausgehandelt hatte, hat Janukowitschs Image ramponiert. Die EU hat ihr Assoziationsabkommen an den Nachweis fairer Wahlen gebunden. Der Internationale Währungsfonds, der mit Janukowitsch anfänglich konstruktiv zusammenarbeiten konnte, hat im Vorjahr die Zahlungen eingestellt, weil Janukowitsch die Gaspreise für die Bevölkerung nicht erhöht hat und die Nationalbank durch das Festhalten am fixen Wechselkurs externe Krisen nicht abfedert. Russland wiederum ist ungehalten darüber, dass Janukowitsch nicht nach Moskaus Pfeife tanzt, und gibt den Bitten nach einem niedrigeren Gaspreis nicht nach.

Mittelstand in der Zwickmühle

Zwischen diesen heiklen Fronten wohnen die Ukrainer selbst. Sie haben nicht nur eine Änderung des Wahlgesetzes zugunsten Janukowitschs vorgesetzt bekommen. Sie sehen sich auch der Expansion der Oligarchen ausgesetzt. Weil kleine und mittlere Unternehmen als Brutstätte für demokratische Mitsprache gelten, seien sie steuerlich oder mittels feindlicher Übernahmen durch präsidentennah Kreise in die Knie gezwungen worden, sodass ihre Zahl allein 2010 um 30 Prozent geschwunden sei und 1,5 Mio. Menschen die Arbeit verloren haben, erklärt Wladimir Dubrowskij, Chefökonom beim Institut CASE Ukraine.

Die Rahmenbedingungen wurden nicht verbessert, weshalb das ohnehin schwache Wachstum in eine Stagnation umschlagen könnte. Die Inflation hat sich bereits in eine Deflation verwandelt. „Die ökonomische Situation ist für alle Thema Nummer eins", meint Bytschenko: „Weil Janukowitsch aber die Argumente ausgehen, lenkt seine Partei der Regionen mit dem Aufreger ab, Russisch zur zweiten Staatssprache zu machen."

Mit dem Gesetz, mit dessen Unterzeichnung Janukowitsch taktisch zuwartet, versucht er seine Stammwähler in der Ostukraine zu aktivieren. Das Problem ist nämlich nicht, dass er ein schlechteres Rating als die Opposition hat. Aber ebenso wie sie hat er das Problem, die Leute zu mobilisieren. Und die Hürde der schwachen Wirtschaft, über die schon Timoschenko einst gestolpert ist, zu überwinden. „Im Herbst droht eine gewisse Instabilität", sagt Dubrowskij. „Offen ist nur, wie sie sich äußert."


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.