Nach dem Amoklauf von Colorado versucht eine Kampagne in den USA, den Teufelskreis moderner Amokläufe zu durchbrechen: Der Name des Massenmörders soll totgeschwiegen werden.
Als Anders Behring Breiviks Name zum ersten Mal in den Nachrichten erschien und binnen Minuten um die Welt ging, war sein Triumph vollkommen. Der Mord an 77 Menschen war für ihn nur das Vorspiel gewesen für den Hauptakt des Dramas, in dem sein Name eine entscheidende Rolle spielte: Dieser nämlich führte alle, die ihn googelten, zu seinem „Manifest 2083“, mit dem der Norweger die Welt verändern wollte.
Letzteres bleibt ihm verwehrt, aber seinen Namen in die Welt zu meißeln ist ihm gelungen. Ebenso wie dem Studenten Cho Seung-Hui, der während seines Amoklaufs an der Virginia Tech eigens eine Pause einlegte, um Fotos von sich an NBC zu mailen. Oder wie Robert Steinhäuser, dem Amokläufer am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, der zu einer Mitschülerin gesagt haben soll: „Einmal möchte ich, dass mich alle kennen.“ Und ebenso wie vielen anderen Amokläufern der letzten Jahre, die vor allem eines gemeinsam haben: den Wunsch, dass einmal die Welt auf sie schaut. Das funktionierte bisher auch reibungslos und hat andere inspiriert. Eine Untersuchung von 143 Amokläufen weltweit zwischen 1993 und 2001 ergab: Die Hälfte aller Amokschützen sind Nachahmungstäter.
Erinnerung an die Opfer, nicht an die Täter
Und nun der Amoklauf bei der Premiere des neuen Batman-Films „The Dark Knight Rises“ in Aurora, Colorado. Wieder sucht ein Massenmörder die größtmögliche Aufmerksamkeit, doch etwas ist anders. Jordan Ghawi, Bruder der beim Massaker umgekommenen Sportjournalistin Jessica Ghawi, berichtet in den Stunden und Tagen danach auf seinem Blog und kündigt an: „Ich werde Interviews geben, bis man sich an die Namen der Opfer erinnert und nicht an den Feigling von einem Shooter.“ Ein Freund und Journalist tut es ihm gleich, und bald greifen Tausende auf Twitter die Forderung auf, sich an die Opfer statt an den Täter zu erinnern.
Jordan Ghawi erreicht mit seinem Aufruf aber auch die Spitzen der Politik. In seinem Statement spricht Präsident Barack Obama kein einziges Mal den Namen des Täters aus, eine entsprechende Weisung ergeht an seine Pressestelle. Auch der Gouverneur von California kündigt an, bei ihm werde nur von „Verdächtiger A“ die Rede sein. Und einige Medien greifen den Vorschlag auf, so schwärzt der TV-Sender Fox News bei der Präsentation von Dokumenten den Namen des Täters, und der bekannte CNN-Reporter Anderson Cooper twittert: „Wir werden alles berichten, was wir über den Verdächtigen wissen, aber ich werde versuchen, seinen Namen so wenig wie möglich in den Mund zu nehmen.“
Es ist der moderne Versuch einer „damnatio memoriae“, wie sie schon die Antike kannte: Als ein Mann namens Herostratos im 4. Jahrhundert v. Chr. den Artemis-Tempel in Ephesos in Brand steckte, um Unsterblichkeit zu erlangen, verbot man, künftig seinen Namen zu nennen. In den vergangenen Jahren haben Forscher bei der Untersuchung der Motive von Amokläufern, aber auch von Terroristen immer wieder Verbindungen zum antiken Brandstifter gezogen und dabei auch den Begriff des „Herostratos-Syndroms“ geprägt.
Wie darauf reagieren? Das Problem zieht sich durch die Zeiten, vor allem seit es die Massenmedien gibt. Schon Ende des 19.Jahrhunderts wurde anlässlich des Anschlags auf den US-Präsidenten James H. Garfield kritisiert, dass die ausführlichen Berichte über Attentäter Nachahmer ermutigen könnten. Und in den vergangenen Jahren sind Kriminologen und Gewaltforscher nicht müde geworden zu kritisieren, dass die voyeuristische Fixierung auf den Amokläufer schon das Feld für neue Massaker bereite.
Zwar ist der Umgang mit dem Eigennamen eines Täters nur ein Aspekt unter vielen, aber ein wichtiger. Immerhin sind Gesicht und Name die wichtigsten Markierungen der eigenen Identität. Ein „Herostrat-Gesetz“ könnte für ruhmgierige Soziopathen den Reiz solcher Untaten verringern, schrieb vor einigen Tagen der Science-Fiction-Autor David Brin. Natürlich müssten Zeitungen und Journalisten freiwillig mitmachen. „Statt Fakten zu unterdrücken, könnten gute Ergebnisse schon allein dadurch erzielt werden, dass man Stil und Präsentation verändert. Als der Oklahoma-City-Bomber Timothy Mc Veigh darum bat, Tim genannt zu werden, und der Unabomber sagte: ,Nennt mich Ted‘ statt Theodore, da stiegen die Reporter in Massen darauf ein. Warum können sie nicht ein bisschen in die andere Richtung gehen?“
Namensänderungen als Teil der Strafe
Und Brin schlägt sogar vor, Namensänderungen als Teil der Strafe einzuführen, sodass man in neuen Geschichtsbüchern etwa lesen könnte: „Robert F. Kennedy wurde 1968 von Doofus25“ ermordet, während der richtige Name nur in einer Fußnote genannt würde.
So weit muss man nicht gehen. Aber ist der Name (ebenso wie das Gesicht) des Täters wirklich eine so wichtige Information? Ganz verschweigen kann man ihn ohnehin nicht, das erwies sich sogar schon bei Herostratos als unmöglich. Aber jeder einzelne Verzicht macht die Bühne für den Täter ein bisschen kleiner. Die „Nennt den Täter nicht beim Namen“-Kampagne in den USA ist ein beachtenswerter Versuch, den Teufelskreis moderner Amokläufe zu durchbrechen – und vielleicht zukunftsweisend.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2012)