Flüchtlingsdramen: "Die EU könnte mehr Leben retten"

Fluechtlingsdramen koennte mehr Leben
Fluechtlingsdramen koennte mehr Leben(c) AP (R. PERALES)
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Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft Europa vor, in der Flüchtlingsfrage zu passiv zu agieren. "Die EU tut nicht genug. Sie könnte mehr Leben retten", sagt HRW-Vize-Direktor Ward zur "Presse".

London/Wien. Es ist ein Trauerspiel ohne Ende: Innerhalb weniger Stunden sind gestern Donnerstag zwei Boote mit etwa 150 afrikanischen Migranten auf Malta gelandet. Zwei von ihnen waren schon gestorben, zwei weitere werden noch vermisst, nachdem sie ins Meer gefallen waren. Wie es mit den Überlebenden auf Malta weitergeht, ist derzeit noch unklar.

Der Vorfall ist Sinnbild für die Situation von Bootsflüchtlingen, die versuchen, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. Ein gestern erschienener Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in London schildert die Lage der Flüchtlinge und wirft Europa vor, zu wenig für sie zu tun. Aufgrund der Konflikte in Nordafrika und der politischen Instabilität infolge des Arabischen Frühlings stieg die Zahl der großteils aus Afrika stammenden „Boat People“ im Jahr 2011 auf 58.000 an. Viele fliehen, weil sie in ihrem Heimatland verfolgt werden oder Krieg herrscht, die meisten hoffen aber schlicht auf ein besseres Leben in Europa.

Einige von ihnen schaffen es jedoch nicht, das „Gelobte Land“ zu erreichen: Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) starben 2011 etwa 1500 Menschen beim Versuch, übers Mittelmeer zu fliehen.

Lebensgefährliche Reise

Dabei gibt es mehrere Hauptrouten. Eine Route führt die Menschen zuerst über Nordafrika, speziell über Libyen, Ägypten, Marokko und Tunesien, nach Italien (vor allem zur Insel Lampedusa) und nach Malta. Eine andere verläuft über Westafrika und Marokko nach Südspanien, aber auch zu den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln im Atlantik.

Die Risken der Reise sind enorm. Die meist seeuntauglichen Boote bestehen oft nur aus Holz oder Gummi und einem kleinen Motor. Meistens sind sie auch vollkommen mit Menschen überladen, die während der Fahrt wenig bis keine Verpflegung erhalten.

Ihr Leben liegt in den Händen von meist unerfahrenen Kapitänen, die auch überaus fragwürdige, ja mitunter verbrecherische Praktiken anwenden. So schildert HRW etwa Fälle, in denen Schmuggler Passagiere von Bord werfen lassen, sobald Land in Sicht ist. Damit soll das Boot an Gewicht verlieren und schneller werden, um bei einer möglichen Entdeckung durch die Küstenwache rasch entkommen zu können.

Italien, Malta, Griechenland und Spanien ist es durch Rettungsaktionen und Schiffspatrouillen immer wieder gelungen, viele Menschenleben zu retten. Dennoch müssen sich die Regierungen dieser Staaten und die EU insgesamt den Vorwurf gefallen lassen, sich mehr darum zu kümmern, die Flüchtlinge möglichst schnell loszuwerden, anstatt ihnen zu helfen.

Das offenbarte sich besonders während der Nato-Militäroperationen gegen Libyens Gaddafi-Regime im Jahr 2011: Eine spanische Fregatte rettete mehr als hundert Migranten auf hoher See. Es folgten Verhandlungen zwischen mehreren EU-Staaten, wer diese Leute aufnehmen solle. Während Spanien und Malta bereit waren, ein paar besonders hilfsbedürftige Passagiere aufzunehmen, blieb der große Rest der Flüchtlinge für fünf Tage an Bord des spanischen Kriegsschiffs. Am Schluss erklärte sich dann ausgerechnet Tunesien bereit, das bereits hunderttausende libysche Flüchtlinge beherbergte, die Leute aufzunehmen.

„Die EU tut nicht genug. Sie könnte mehr Leben retten“, sagt der für Europa und Asien zuständige HRW-Vize-Direktor Benjamin Ward zur „Presse“. Seiner Ansicht nach gebe es in der EU ein großes Kommunikationsproblem, welches mit „Eurosur“, einem geplanten, koordinierten Überwachungssystem, zumindest teilweise gelöst werden könnte. Das System zielt darauf ab, die Überwachung der (See-)Grenzen und die Koordination der Wacheinheiten zwischen den EU-Staaten und der EU-Grenzschutzbehörde „Frontex“ zu verbessern. Satelliten und Drohnen sollen dabei helfen, die nordafrikanischen Küsten und das Meer besser im Auge zu behalten.

Hilfspflicht bei überfüllten Booten

Ob das Menschenschmuggler davon abhalten kann, ihre Geschäfte zu beenden, bleibt fraglich. Um tragische Unfälle dennoch zu vermeiden, fordert Ward: „Überfüllten Booten müssen Schiffe in der Nähe unbedingt zu Hilfe kommen. Tragödien wie der berüchtigte ,Left to die‘-Fall dürften sich nicht wiederholen“: Dabei trieb während des Libyen-Konfliktes im April 2011 ein Boot mit 72 Afrikanern an Bord mehr als zwei Wochen auf offener See. 63 Menschen starben, darunter 20 Frauen und zwei Babys; trotz Warnhinweisen griffen Nato-Einheiten in der Nähe nicht ein, einige sollen gar „absichtlich“ weggeschaut haben.

Auf einen Blick

Nach Schätzungen des UNHCR(des UN-Flüchtlingshilfswerks) sind im letzten Jahr um die 1500 Menschen bei dem Versuch gestorben, Europa von Afrika aus über das Mittelmeer und den Atlantik vor Marokko zu erreichen. In einem neuen Bericht schreibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Europa könnte viel mehr Menschenleben auf See retten – dazu müssten allerdings die nationalen und die zwischenstaatlichen Seeüberwachungssysteme und Kommunikationswege effektiver miteinander kooperieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2012)

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