Amerikas dunkle Schatten

Amerikas dunkle Schatten
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Besitz und Einsatz von Schusswaffen sind ein paradoxer Bestandteil des amerikanischen Mythos. Warum ein Volk, das die Ordnung als zentralen Wert zelebriert, so sehr an der Idee der Selbstjustiz hängt.

Auch wenn es schmerzt, kann man die Feststellung nicht leugnen: Das Massakrieren Unschuldiger durch Schusswaffen ist ein unverzichtbarer Teil des „American Way of Life“. Es gehört zu unserem Gründungsmythos. Es ist die blutige Realität, wie dieser Kontinent erobert und besiedelt wurde.

Heute nennen wir Taten wie jene von Aurora oder Oak Creek „sinnlos“ – dabei sollten wir sie als das interpretieren, was sie sind: eine weit über die bloßen Ereignisse hinausgehende nationale Tradition. Das rituelle Abschlachten von Menschen finden wir überall in der Geschichte der USA.

Auch wenn wir es nicht zugeben können, gibt es kein besseres Bild von der Ausnahmestellung Amerikas in der Welt als die Bilder von der rituellen Hinrichtung von Menschen. Auch andere Kulturen haben ihre Schlächter, aber nur bei uns spiegelt sich die Gesellschaft dermaßen in tödlichen rituellen Schießereien wider: In unserer ganzen Geschichte und sogar in unseren Filmen gibt es einige Todesschützen – etwa den Sklavenführer John Brown –, die wir hochleben lassen.

Unsere rituellen Schießereien sind auch ein düsterer Ausdruck eines politischen Ethos, das die Theologie des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat umgibt. „Bürger und Staat“, das ist das umstrittenste Element unseres Dogmas von der nationalen Identität – und argumentieren lässt es sich am besten entlang der Frage des Tötens mit Schusswaffen. Pro- und Anti-Schusswaffen-Sektarianismus stellen nach wie vor die tiefste Kluft in unserer nationalen Einheit dar – beinahe schon einen Bruch.


Teil des „Way of Life.“ Ob in Fast-Food-Lokalen, Einkaufszentren, an Schulen oder Universitäten: Schießereien im ganzen Land werfen die Frage auf, warum sind solche Massaker gleichzeitig so in unserem „Way of Life“ verwurzelt – und so sehr in dem politischen Streit um unsere kollektive Identität? In den vergangenen Wochen haben wir diese Auseinandersetzung heftig geführt – aber ohne an der Kernfrage zu kratzen: Die „Anti Gun“-Bewegung kritisiert die Schusswaffenkultur, währen die Apostel des Rechts auf Schusswaffen das Banner der Freiheit und Tugend hochhalten, das mit Waffengewalt gegen das Böse verteidigt werden muss.

Keine dieser – in ihren Argumenten schon fast religiös inspirierten – Gruppen ist bereit, zuzugeben, dass Amerikas Cocktail aus Waffenbesitz und Gerechtigkeit, aus Freiheit und strikter Ordnung uns alle mit einer kollektiven Vision „rechtschaffener Gewalt“ beseelt hat. Eine Idee, die uns nur allzu oft im Zerrspiegel wahnsinniger Amokläufe vorgehalten wird. Es ist keine Schusswaffenkultur, die wir hier haben – sondern ein gemeinsames Ethos, für das das Gewehr sowohl Symbol als auch Instrument darstellt.


Ein amerikanischer Mythos. Die Elemente dieses amerikanischen Ethos sind: Erstens, die Schusswaffe ist in ihrer Beziehung zur US-Geschichte und -Identität heilig. Sie ist nicht nur ein Fetisch, sondern ein Werkzeug, das jene, die es rechtschaffen einsetzen, von allen Einschränkungen dispensiert – denn in dieser „reinen“ Verwendung ist die Schusswaffe das Werkzeug der Gerechtigkeit selbst.

Zweitens: Nur in den Vereinigten Staaten dürfen sich rechtschaffene Menschen – ob Individuen oder in der Gruppe – bemächtigt und berechtigt fühlen, selbst ausgleichende Gerechtigkeit zu üben. Dieser Gedanke wird in unserer Folklore und Kunst bis heute zelebriert. Bis heute unterscheidet sich die politische Debatte in den USA von jener im Rest der Welt insofern, dass nur hierzulande die einzelnen Bürger als Quelle der Gerechtigkeit gleichberechtigt mit dem Staat gesehen werden.

Drittens gibt es für Rituale der Vergeltung mit Waffengewalt keinen mäßigenden kulturellen Rahmen, um diese grausigen Taten als edel und sauber einzustufen. Unsere mythischen Praktiken schlittern also leicht in die Finsternis. Vielleicht heben wir deswegen das Morden abseits des Gesetzes in Mythos und Filmen auf ein Podest. Amerika ist als Gesellschaft besessen von der Idee der Ordnung – und trotzdem umarmt es das Chaos, wenn es um Besitz und Gebrauch von Schusswaffen geht.

Nicht überraschend: Historisch ist die amerikanische Gesellschaft aus Piraten und Freibeutern entstanden, die wir heute, betrachtet durch die rosarote Nostalgiebrille, als „Pioniere“ bezeichnen.

Ihre Justiz war sehr persönlich – Urteile wurden von kleinen Klüngeln gefällt, Strafen von spontan organisierten Banden vollstreckt. Es war ein unmittelbares Justizsystem, zu dem wenig mehr gehörte als ein Seil und ein Baum.

Wir sollten uns also nicht wundern, dass die Legenden von Amerikas chaotischem Ursprung vollgepackt sind mit Geschichten über Vergeltung, über Untaten, die mit Waffengewalt gesühnt wurden. Dass Recht damals auf persönlicher Basis gesprochen wurde – auf der kollektiven Überzeugung strenger und aufgeregter Kleingemeinden –, erklärt bis heute die amerikanischen Begrifflichkeiten von politischer Freiheit, die noch immer eng verbunden mit primitiv-dörflichen Wurzeln sind.


Rechtschaffene Vergeltung. Deswegen ist das amerikanische Ethos voll mit individuellen Konzepten von Vergeltung und Rache: Der Mensch, dem unrecht getan wurde, der Mann, dessen Frau und Kinder auf der Prärie ermordet worden sind – ob von Indianern, Abtrünnigen, ehemaligen Kameraden, Unionssoldaten oder Räubern –, er muss selbst zur Waffe greifen, um volle und gerechte Rache (und vielleicht ein bisschen mehr) zu üben und der Rechtschaffenheit zur Geltung zu verhelfen.

Den modernen USA ist das 400 Jahre andauernde Töten Unschuldiger kaum noch präsent. Es gibt aber eine delikate Auswahl an bis heute fortgeschriebenen Erzählungen von rechtschaffenen Tötungen, viele davon auf persönlichster Ebene.

Das ist es auch, was uns in der großen Oper des US-Ethos vor Augen geführt wird, in den Filmen. Warum besuchte der Attentäter von Aurora gerade den Batman-Film „The Dark Knight Rises“? Weil der Film und die Mythologie von Batman die düsterste Ausgeburt populärer moderner Literatur ist. Passenderweise ist Batman die Inkarnation von Amerikas dunkler Mythologie von der gerechten Vergeltung.

Die Debatte greift in vielen Punkten zu kurz, zum Beispiel darin, dass die Kontrolle von Waffenbesitz eine simple Frage der Regulierung sei. Weil die Schusswaffe ein so heiliges Symbol dieser Nation ist, ist die Art, wie wir Besitz und Verwendung sanktionieren, ebenso symbolisch. Schusswaffenkontrolle ist daher nichts, was einer pragmatischen Abwägung unterliegt. Die einschlägigen Gesetze sind kraftvolle Symbole, die den Geist ihrer Zeit in sich tragen.

Deswegen sollten wir die Kluft zwischen Schusswaffen-Befürwortern und -Gegnern als fast religiös motiviert betrachten: Es geht um mehr als nur um die Verfassung, es geht um die Zukunft der amerikanischen Identität – was paradoxerweise zur Folge hat, dass beide Seiten sich einer theologisch geladenen Sprache bedienen. Wir reden von einer „Debatte“, tatsächlich wäre „Glaubenskrieg“ näher an der Wahrheit.

Es wird sich nichts ändern, denn dazu müsste zunächst einmal ein Selbst-bewusst-Werden der Nation stattfinden – was an sich schon eine beeindruckende Leistung darstellen würde. Es wäre nichts Geringeres, als dass Amerika aus seiner Haut schlüpfte. Und das wäre der erste Schritt für eine Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.

zum Autor

Michael Vlahos ist Professor für Strategie am Naval War College der USA sowie Mitglied des Teams für die Einschätzung der nationalen Sicherheit an der John Hopkins University in Baltimore. Der Historiker hat in den vergangenen Jahren mit Anthropologen und Islamwissenschaftlern zum Verhältnis der USA zur islamischen Welt geforscht und publiziert.

Der Text erschien ursprünglich in dem Online-Magazin „The Globalist“. Übersetzung: Georg Renner.
The Globalist

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2012)

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