Tatort Erlöserkirche: Was, wenn es eine Moschee gewesen wäre?

Gastkommentar. Das russische Urteil gegen die Genital-Randaliererinnen Pussy Riot ist hart. Doch es würde noch härter ausfallen, wäre der Tatort ein anderer – zwei Gedankenexperimente.

Zwei Jahre Lagerhaft also. Wegen Rowdytums aus religiösem Hass für das etwa 40 Sekunden dauernde „Punkgebet“ in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale am 21. Februar dieses Jahres. Die Aktivistinnen waren zum Zeitpunkt der Tat zu fünft.

Unklar bleibt auch nach dem Schuldspruch im Moskauer Chamowniki-Gericht, warum ausgerechnet diese drei Frauen belangt und verurteilt wurden. Die beiden anderen befinden sich angeblich in Freiheit.

Angriff auf religiöse Gefühle

Die Genital-Randaliererinnen von Pussy Riot hätten absichtlich und vorsätzlich die religiösen Gefühle der Gläubigen verletzt. Auch Präsident Putin bekam sein Fett ab, und der „lupenreine Demokrat“, wie ihn Deutschlands Exbundeskanzler Gerhard Schröder einmal nannte, reagierte erwartungsgemäß.

Das Urteil stößt auf heftige Kritik, nicht nur bei Trittbrettfahrern, sondern auch bei solchen, die sich schon (um bei diesem Sprachbild zu bleiben) ins Wageninnere des Establishments vorgearbeitet haben und nun als Kontrolleure (der variablen Meinungsfreiheit) fungieren.

Zustimmung im Establishment

Natürlich wird bei diesem Fall von den üblichen Verdächtigen eine besondere Milde gefordert. Es geht ja nur gegen die Kirche. Die Feindlichkeit gegenüber Christen und deren Symbolen birgt kein Empörungs- sondern nur Solidarisierungspotenzial. (Die deutsche Spitzengrüne Marieluise Beck schaffte es sogar in den Gerichtssaal, um ihre Betroffenheit den Kameras mitzuteilen).

Das Weltkonzil des Russischen Volkes, das vom russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill geleitet wird, verteidigte den Richterspruch. Es sei notwendig gewesen zu zeigen, dass das „Punkgebet“ ein Verbrechen und nicht ein Akt freier Kreativität sei, hieß es. Denn zum Protest wäre ein anderer Ort der Öffentlichkeit besser geeignet gewesen. Etwa der Rote Platz mit seinen zahlreichen Touristen aus aller Herren Länder und Mütter Sprachen. Aber warum wurde ausgerechnet das Allerheiligste der russisch-orthodoxen Kirche mit der infantilen Koprolalie („Scheißdreck, göttlicher Dreck“) bedacht?

Tatort Moschee

Und hier zwei Gedankenexperimente – Gedanken sind bekanntlich frei, und es soll hier keinesfalls zu einer strafbaren Handlung aufgerufen werden: Hätten die drei Aktivistinnen eine Moschee zu ihrem Tatort auserkoren, vielleicht sogar während des soeben zu Ende gegangenen Fastenmonats Ramadan, noch dazu den Bereich, zu dem nur Männer Zutritt haben – wo sind in diesem Zusammenhang übrigens unsere flächendeckend vorhandenen Gleichbehandlungsritterfräuleins, die diese Segregation in Form einer rigiden Geschlechter-Apartheid anprangern? –, was dann?

Die Kombination westlich dekadenter „haram“-Sündenmusik mit Wörtern aus dem Fäkalbereich in unmittelbarer Verknüpfung mit Religiösem: Nun, man braucht kein Prophet zu sein, um sich denken zu können, dass dieses „Punkgebet“ an heiliger Stätte zu Mord und Totschlag geführt hätte.

Strafe wegen Verhetzung?

Nach den rasant verbreiteten Fernsehbildern hätten die Straßen von Jakarta bis Djerba, von Trabzon bis Teheran vor dem muslimischen Furor erzittert. Nicht nur Fahnen, auch Kirchen hätten gebrannt, von Ägypten bis Nigeria. Wie immer beim geringsten Anlass eines mohammedanischen Verteidigungsfalles des wahren, einzigen Glaubens.

Geistliche der islamischen Welt würden eine von Juden und Amerikanern gesteuerte Kampagne verorten, Dozenten eine „kreuzzüglerische Zionistenkampagne“ erkennen (wie bei den Mohammed-Karikaturen). Und überhaupt: Frauen auf geheiligtem Männerboden!

Dabei wären die Straftatbestände Hausfriedensbruch, Herabwürdigen einer Religion sowie der neu geschaffene Verhetzungsparagraf (§ 283 des österreichischen Strafgesetzbuches) noch das Geringste:

„Wer öffentlich auf eine Weise, die geeignet ist, [?] zu einer feindseligen Handlung gegen eine im Inland bestehende Kirche oder Religionsgesellschaft oder gegen eine durch ihre Zugehörigkeit zu einer solchen Kirche oder Religionsgesellschaft, zu einer Rasse, zu einem Volk, einem Volksstamm oder einem Staat bestimmte Gruppe auffordert oder aufreizt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen“ heißt es in dem einschlägigen Paragrafen.

Ebenso ist zu bestrafen, wer öffentlich gegen eine der bezeichneten Gruppen hetzt oder sie in einer die Menschenwürde verletzenden Weise beschimpft oder verächtlich zu machen sucht.

Tatort Synagoge

Jedoch, und das ist der dritte Fall in der Bestimmung: Der Verhetzungsparagraf (§ 283) tritt bei Wiederbetätigung nach dem Verbotsgesetz hinter dieses zurück.

Vollzöge die Aktivistengruppe einen derartigen Protest in einer Synagoge – noch dazu in eindeutiger Aufmachung, um die Wirkmächtigkeit der Bilder zu erhöhen –, wäre es angezeigt, nach dem Verbotsgesetz von 1947 vorzugehen. Dabei werden in der Regel Strafen mit Jahreszahlen im oberen einstelligen Bereich ausgesprochen.

Ohne Sympathie für die krude Weltsicht der meist älteren Delinquenten denken viele, dass der Bemessungsrahmen für eine reine Gesinnungs- oder Gedankentat zu hoch angesetzt ist (zumeist ohne körperliche Schäden und verletzte Opfer, aufgrund eines gesunden Immun- und Abwehrsystems der Gesellschaft).

Im Gesetz gegen die (nationalsozialistische) Wiederbetätigung heißt es nämlich: „Die öffentliche Aufforderung und Verleitung zu einer nach § 1 oder § 3 verbotenen Handlung und deren Verbreitung durch Druckwerke, Bilder und dergleichen ist im § 3d verboten und mit fünf bis zehn Jahren Freiheitsstrafe bedroht, bei besonderer Gefährlichkeit des Täters 20 Jahre.“

Der soziale Scheiterhaufen winkt

Und die Verbreitung eines Videos fiele somit in den Mindeststrafrahmen von fünf Jahren aufwärts. Erschwerend käme die Tragweite der Verhetzung dazu, wenn man sich die explosionsartige Verbreitung des Videomitschnitts des Pussy-Riot-Auftrittes auf der Internetplattform YouTube anschaut.

Kämen noch weitere belastende Umstände hinzu, wie unlängst bei einer olympischen Ruderin in Deutschland, die sich des schweren Vergehens des unkorrekten Freundes, der früher für die NPD (einer allerdings nicht verbotenen politischen Partei) anmaßte, so winkt der soziale Scheiterhaufen – die gesellschaftliche Ächtung auf Lebenszeit ist demnach nicht auszuschließen.

Diese Stigmatisierung wäre dann definitiv nicht von einer Solidarwelle getragen wie bei den nun verurteilten Genital-Randaliererinnen, die nach Strafende gemachte – und im lüsternen Westen begehrte – Frauen sein werden.

Es sei ihnen gegönnt.


Karl Weidinger (*1962) lebt als Schriftsteller in Wien und im Burgenland. Sein Anliegen ist die Gesellschaftskritik. Hauptwerke: „Der Missbrauch des aufrechten Ganges“ (1993), „Die Verhaftung der Dunkelheit wegen Einbruchs“ (2003), „Die schönsten Liebes-Lieder von Slipknot“ (2007), Androkles Verlag.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2012)

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