College Street, Kalkutta

Ilija Trojanow und Anja Bohnhof blicken anders auf die Ferne: eine kleine, feine Dokumentation über eine Buchhandlungsmeile.

Das ist nicht nur ein bezauberndes Buch. Es ist ein Führer in eine Welt, von der man im Westen kaum eine Vorstellung hat: „Stadt der Bücher“ von Ilija Trojanow und Anja Bohnhof eröffnet uns in einem Mäander von Fotografien und kurzen Texten ein Universum, das ebenso unwirklich wie historisch erscheint, vor allem im Zeitalter der IT und des E-Books, ein Universum in einem Subkontinent, der im westlichen Klischee zwischen Märchen und Mangel changiert und dessen IT-Branche in großen Schritten vorwärtsstrebt.

„Stadt der Bücher“ dokumentiert und erzählt gleichermaßen von einem anderen Kalkutta, genau gesagt vom Viertel um die College Street. Hier liegen Bücherläden, Kioske, Verlage und Zuliefererbetriebe dicht beieinander. „Gewissermaßen verdankt College Street seine Existenz dem städtebaulichen Versuch, Schneisen durch das schon Anfang des 19. Jahrhunderts dicht besiedelte Kalkutta zu schlagen, um einen freieren Fluss von Waren und Arbeitskräften zu ermöglichen.“

College Street ist ebenso einzigartig wie pars pro toto – ein ganz besonderer Stellvertreter seiner Art. Die Liebe zu Büchern findet man vielerorts auf dem indischen Subkontinent, auch im ungeliebten Pakistan fallen vollgestopfte Buchhandlungen auf, in denen man erst auf den zweiten und dritten Blick erkennt, welche Schätze hier zu heben sind. In der College Street hingegen hat der Käufer ohne das genaue Wissen, was er möchte, keine Chance, denn die Bücher stapeln sich unerkennbar, und nur der Kioskhändler weiß, wo sich welcher Titel befindet. „Ihr Ausländer seid immer bass erstaunt. Wir haben halt eine andere Ordnung hier, aber wie du siehst, funktioniert sie.“

Jenseits der kleinen geschichtlichen, soziologischen und topografischen Dokumentationen, mit denen Ilija Trojanow aufwartet, bebildert von Anja Bohnhofs farbigen Fotografien, die merkwürdigerweise alle an einem frischen frühen Morgen ohne Staub, Dreck und Betriebsamkeit aufgenommen scheinen, ein bisschen zu schön für die Wirklichkeit, fasziniert das kleine Buch aber vor allem mit einem Text zwischen Bildern und Zeilen.

In der College Street, so beschreibt dieser Text, glaubt man nicht nur an die Bücher, man kann sich ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen. Sie bergen immer noch Wissen, sie sind immer noch Versprechen und Verheißung von Bildung, sie warten mit unverzichtbaren Geschichten auf. Sie sind in Massen da und für kleines Geld zu haben.

Nebenbei erfährt der Leser Erstaunlichesüber Marktgepflogenheiten, die sich weit in der Vergangenheit bildeten und hochaktuelle Brisanz haben. „Heute sind in College Street an die hundert Verlage beheimatet, deren Gründung oft eine politische, volkserzieherische Komponente beinhaltete: Manwollte Bücher zu erschwinglichen Preisen drucken. Klassiker in die einheimischen Sprachen übersetzen. Vergessen Sie nicht, vor 100 Jahren mussten keine Rechte eingeholt werden, das Copyright unterlag damals nicht dem heutigen rigorosen Schutz.“ Solche Äußerungen, hier aus dem Mund eines Verlegers, muten bizarr historisch an in der gegenwärtigen Diskussion.

Was das Bilderbuch jenseits seiner Information und Vorstellung eines Stadtteils als Universum unbedingt beachtenswert macht, ist die Brechung mit dem ewigen Kalkutta-Klischee. Hier wird, wenn auch anhand paradiesisch anmutender Fotografien, ein anderer Aspekt einer Stadt, die jeder im Westen zu kennen glaubt, vorgestellt. Diese Perspektive wünscht man sich inzwischen für viele letztlich im Klischee versunkenen Länder, egal ob diese in Zentral-, Südasien oder Afrika angesiedelt sind.

Mit Blick in „Stadt der Bücher“ wird klar, wie sehr wir einer einseitigen Berichterstattung unterliegen. Wir haben uns daran gewöhnt, von Fernen nur noch zu erfahren, dass sie krisengeschüttelt sind, bestimmt von Kriegsgeschehen und Armut. Trojanowsund Bohnhofs kleine feine Dokumentation zeigt, dass es immer auch einen anderen Blick gibt, einen anderen Blick geben muss –jenseits des täglichen Katastrophenjournalismus, der unseren Blick und unser Bewusstsein von fernen Welten heute prägt, ein Blick, der der westlichen Arroganz einen Spiegel vorhält. ■





Ilija Trojanow, Anja Bohnhof
Stadt der Bücher

128S., geb., €15,40 (LangenMüller Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2012)

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