Japan im kollektiven „Blutrausch“

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Die Lehre der „Blutgruppendeutung“ hat die Bevölkerung des Inselreichs fest im Griff. Mit der „falschen“ Blutgruppe wird man rasch zum Verlierer.

Liebe, Lebenseinstellung, Bildung, Bankkonto – das alles ist nur zweitrangig, wenn sich Fräulein Suzuki nach einem Mann umsieht. Was für sie, so wie für viele Japaner wirklich zählt, ist nämlich – die Blutgruppe.

Oft sieht ein Kandidat zwar toll aus und scheint gut bei Kasse zu sein – aber er hat das falsche Blut. Hiromi Suzuki kann ein Lied davon singen: Ihr voriger Freund war ein „Null“-Typ. Nie wieder! Im Beruf seien diese vielleicht Führer, privat aber Nieten, meint sie, Nuller seien „zu pflegebedürftig“. B-Grüppler hingegen seien süß, aber führen nicht richtig auf sie ab. Fazit: „Bevor ich einen näher kennenlernen möchte, frage ich ihn nach seiner Blutgruppe. Nur wenn sie stimmt, geh ich zum Date.“

Wie die 24-Jährige glauben viele Japaner nicht an Sternzeichen, für sie erklärt die Blutgruppe den Charakter. Japaner sind richtig besessen von Blutgruppen – sie können angeblich Auskunft darüber geben, wie jemand lebt und liebt, mit Geld umgeht, oder welche Chancen man als Sumo-Ringer oder Popsänger hat. TV und Magazine überbieten sich in Analysen und Ratschlägen über die richtige „Blutmischung“ von Paaren.

Falsche Blutgruppe? Pech gehabt!

Selbst im Beruf schwören viele auf den „roten Einfluss“, immer öfter wird in Bewerbungsgesprächen danach gefragt und kann man am „falschen“ Blut sogar scheitern. So bekannte sich der frühere Premierminister Taro Aso (2008/09), ein „A-Typ“ zu sein. A-Typen seien verantwortungsbewusst und Organisationsperfektionisten, heißt es, mit ihnen lebe es sich leicht, weil sie alles managten. „Das kann sein“, meint Fräulein Suzuki, „aber der A-Typ ist langweilig.“

Aso setzte mit seinem Outing auf die guten Züge, wozu auch Ehrlichkeit, Kreativität und Geduld zählen. Dafür gilt er seither aber auch als stur und furchtsam. Der definitiv „Richtige“ müsse, sagt Suzuki, AB haben. „Mit so einem kann man sich interessant unterhalten, er ist nett und erotisch.“

„B“-Typen sind böse

Den Hype um die Blutdeutung haben der Psychologe Masahiko Nomi und dessen Sohn Toshitaka in vielen Büchern seit den 1970ern entfacht. Demnach tendierten B-Menschen zu Egoismus, was zu der südkoreanischen Kinoromanze „Hilfe, mein Freund hat Blutgruppe B!“ führte, die in Asien als Kult gilt. B gilt als besonders böse, weil dessen Besitzer auch Individualität über Gemeinwohl stellten, und das ist in Japan ein extrem schlimmer Vorwurf. In dieser Konsensgesellschaft wird man damit ganz schnell zum Außenseiter. Studien an Schulen und Unis belegen tatsächlich, dass B-Kinder besonders oft gehänselt und B-Studenten schwerer einen Job finden.

Fließt dagegen Blutgruppe 0 durch die Adern, könnte es sich um einen aufgeschlossenen, geselligen und großzügigen, allerdings auch eitlen, unhöflichen, eifersüchtigen und arroganten Menschen handeln. Nicht sonderlich beliebt sind in Japan, wo 70 Prozent der Menschen Blutgruppe A oder 0 tragen, auch die seltenen AB-Typen. ABlern haftet der Ruf an, cool und geheimnisvoll zu sein, dafür aber vergesslich, unentschlossen und zuweilen unberechenbar. Angeblich sind sie rational und halten sich gern im Hintergrund, arbeiten häufig in Banken oder bei der Post.

Angeblich gibt es bei AB aber auch eine „kreative Untergruppe“, die Designer, Gartenarchitekt oder Anwalt werden möchte. Wenn nicht, ist AB eben ein Versager, und in dieser Klassifizierung liegt ein gesellschaftliches Problem.

Die Zwangsvorstellung führt so weit, dass Japaner jedes Jahr zwei Millionen Kondome kaufen, die für spezifische Blutgruppen erdacht wurden. Die für A beispielsweise sind dünner als die für B und andersfarbig. Die für B sind gerippt, keiner weiß, warum. Mit der Packung liefern die Hersteller eine „Erfolgskarte“, die aussagt, welche Paare beim Sex am besten harmonierten. Für den 0-Mann wird die A-Frau empfohlen, eine AB könnte ihm zu „heiß“ sein.

Vor allem die Boulevardpresse weidet sich an dem Thema. Japans Medien werden von Menschenrechtlern deshalb zur Mäßigung aufgefordert. „Die Kategorisierung von Menschen anhand ihrer Blutgruppe kann zu Diskriminierung führen“, heißt es. Aber nach diesen Schemata werden wichtige Entscheidungen gefällt: Wer sich zur Wahl stellt, gibt die Blutgruppe an. Bei jedem neuen Politiker weisen die Biografien die Blutgruppe aus. Manager von Baseballteams kaufen ihre Spieler zuweilen danach ein. Im Zweiten Weltkrieg sollen Militärverbände unter diesem Aspekt zusammengestellt worden sein.

Wissenschaftlicher Unfug

Die Blutdeutungstheorien sind indes nirgends wissenschaftlich belegt und wohl Unfug. Selbst Experte Nomi gibt zu, dass seine Erkenntnisse nicht alles erklärten. „Aus einem einzigen Rindsfilet können drei Köche ganz unterschiedliche Gerichte machen“, ruderte er bei einer Talkshow zurück. Auch Ärzte warnen, dass es keine rationale Begründung für den „Blutrausch“ gebe: Die Blutgruppe sei für den Charakter so aussagekräftig wie die Haarfarbe.

Lexikon

Die Blutgruppendeutung wurde in den 1920ern vom Psychologen Furukawa Takeji in Japan entwickelt und erlebte in den 1970ern eine Renaissance. Im Grunde geht es darum, dass Blutgruppen ihren Trägern bestimmte charakterliche Eigenschaften verleihen. Diese Theorie ähnelt also westlichen pseudowissenschaftlichen Vorstellungen wie jener vom Einfluss der Sternbilder.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2012)

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