Kardinal Martini: "Hat die Kirche Angst statt Mut?"

Kardinal Martini Kirche Angst
Kardinal Martini Kirche Angst(c) REUTERS (POOL)
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Im letzten Interview vor seinem Tod empfahl Mailands Carlo Maria Kardinal Martini, einen Weg der radikalen Veränderung einzuschlagen.

Rom. Der Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini, eine der wichtigsten Autoritäten in Italiens katholischer Kirche, verstarb vor einer Woche. Pater Georg Sporschill und Federica Radice Fossati Confalonieri führten mit ihm das letzte Interview vor seinem Tod. Die italienische Version wurde bereits vom „Corriere della Sera“ veröffentlicht.


Die Presse: Wie sehen Sie die Situation der Kirche?

Kardinal Carlo Maria Martini: Die Kirche in den Wohlstandsländern Europas und Amerikas ist müde geworden. Unsere Kultur ist alt, unsere Kirchen sind groß, Häuser sind leer, die Organisation wuchert, unsere Riten und Gewänder sind prächtig. Doch drücken sie das aus, was wir heute sind? Dienen die Kulturgüter, die wir zu pflegen haben, der Verkündigung und den Menschen? Oder binden sie zu sehr unsere Kräfte, sodass wir uns nicht bewegen können, wenn eine Not uns bedrängt? Der Reichtum belastet uns. Wir stehen da wie der reiche Jüngling, der traurig wegging, als ihn Jesus zur Mitarbeit gewinnen wollte. Ich weiß, dass wir nicht einfach alles verlassen können. Doch wir könnten zumindest Menschen suchen, die frei und den Menschen nahe sind, wie es Erzbischof Romero und El Salvadors Jesuiten-Märtyrer waren. Wo sind die Helden bei uns, auf die wir schauen können? Keinesfalls dürfen wir sie mit den Fesseln der Institution behindern.

Wer kann der Kirche heute helfen?

Pater Karl Rahner gebrauchte gerne das Bild von der Glut, die unter der Asche zu finden ist. Ich sehe so viel Asche, die in der Kirche über der Glut liegt, dass mich manchmal Hoffnungslosigkeit bedrängt. Wie können wir die Glut von der Asche befreien, sodass die Liebe wieder zu brennen beginnt? Als Erstes müssen wir die Glut aufspüren. Wo sind einzelne Menschen, die hilfreich sind wie der barmherzige Samariter? Die Vertrauen haben wie der heidnische Hauptmann? Die begeistert sind wie Johannes der Täufer? Die Neues wagen wie Paulus? Die treu sind wie Maria von Magdala? Ich empfehle dem Papst und den Bischöfen, in ihre Leitungsgremien zwölf ungewöhnliche Menschen aufzunehmen. Menschen, die bei den Ärmsten sind, Jugendliche um sich haben und Experimente machen. Es braucht die faire Auseinandersetzung mit Menschen, die brennen, damit der Geist wehen kann.

Welche Heilmittel empfehlen Sie gegen die Müdigkeit?

Es gibt Heilmittel im Christentum, die ihre Wirkung nie verlieren. Ich empfehle drei starke Medikamente: Das erste von ihnen ist die Umkehr. Die Kirche, angefangen bei Papst und Bischöfen, muss sich zu ihren Fehlern bekennen und einen radikalen Weg der Veränderung gehen. Die Skandale um den Missbrauch von Kindern zwingen uns, Schritte der Umkehr zu setzen. Die Fragen zur Sexualität und zu allen Themen, die den Leib betreffen, sind ein Beispiel. Sie sind jedem Menschen wichtig, manchmal vielleicht zu wichtig. Nehmen wir wahr, ob die Menschen die Stimme der Kirche zur Sexualmoral noch hören? Ist die Kirche hier eine glaubwürdige Gesprächspartnerin oder nur eine Karikatur in den Medien?

Das zweite ist das Wort Gottes. Das Zweite Vatikanische Konzil gab den Katholiken wieder die Bibel in die Hand. Aber können sie die Heilige Schrift verstehen? Wie finden Katholiken einen selbstbewussten Umgang mit dem Wort Gottes? Nur wer dieses Wort in sein Herz aufnimmt, kann beim Neuaufbruch der Kirche mitmachen und in persönlichen Fragen gute Entscheidungen treffen.

Das Wort Gottes ist einfach und sucht als Partner das hörende Herz. Dazu braucht es nur Stille, Hören, Lernen, Fragen und Warten, wenn ich es nicht fassen kann. Nicht der Klerus und nicht das Kirchenrecht können die Innerlichkeit des Menschen ersetzen. Alle äußeren Regeln, Gesetze und Dogmen sind dazu da, die innere Stimme des Menschen zu klären und die Geister zu unterscheiden.

Für wen sind die Sakramente? Sie sind ein drittes Heilmittel. Die Sakramente sind keine Instrumente zur Disziplinierung, sondern eine Hilfe für die Menschen an den Wendepunkten und in den Schwächen des Lebens. Bringen wir Sakramente zu den Menschen, die neue Kraft brauchen? Ich denke an die vielen Geschiedenen, wieder Verheirateten, an Patchwork-Familien. Sie brauchen besondere Unterstützung. Die Kirche steht zur Unauflöslichkeit der Ehe. Es ist eine Gnade, wenn eine Ehe und Familie gelingt. Wenn die Eheleute zusammenhalten und einander tragen. Wenn sie Kinder haben und sie zu selbstständigen und mutigen Christen erziehen. Christliche Familien zeichnen sich aus durch die Kraft, jenen entgegenzukommen, die Not haben in der Beziehung oder in der Erziehung.

Die Art und Weise, wie wir mit Patchwork-Familien umgehen, bestimmt die Generation der Kinder. Eine Frau wurde von ihrem Mann verlassen und findet einen neuen Lebenspartner, der sich ihrer und der Kinder annimmt. Die zweite Liebe gelingt. Wenn diese Familie diskriminiert wird, wird nicht nur sie, sondern werden auch ihre Kinder zurückgestoßen. Wenn sich die Eltern in der Kirche ausgeschlossen fühlen oder keine Unterstützung erfahren, verliert die Kirche die nächste Generation.

Vor der Kommunion beten wir: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Wir wissen, dass wir unwürdig sind und mit unserer Leistung die Liebe nicht verdienen. Liebe ist Gnade. Liebe ist Geschenk. Die Einladung, zur Kommunion zu gehen und das Brot des Himmels zu empfangen, richtet sich an die Suchenden und Bedürftigen. Das ist kein Anbiedern, sondern ein selbstbewusstes Angebot der Kirche im Wissen darum, dass bei Gott nichts unmöglich ist. Die Frage, ob Geschiedene zur Kommunion gehen dürfen, sollte umgedreht werden. Wie kann die Kirche den Menschen, deren Beziehung schwierig oder gescheitert ist, mit der Kraft der Sakramente zu Hilfe kommen?

Womit ringen Sie persönlich?

Die Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben. Warum bewegt sie sich nicht? Haben wir Angst? Angst statt Mut? Wo doch der Glaube das Fundament der Kirche ist. Der Glaube, das Vertrauen, der Mut. Ich bin alt und krank und auf die Hilfe von Menschen angewiesen. Die guten Menschen um mich herum lassen mich die Liebe spüren. Diese Liebe ist stärker als die Hoffnungslosigkeit, die mich beim Blick auf die Kirche in Europa manchmal überkommt. Nur die Liebe überwindet die Müdigkeit. Gott ist die Liebe. Ich habe noch eine Frage an dich: Was kannst du für die Kirche tun?

Zur Person

Der Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini war einer der prominentesten Vertreter einer weltoffenen und selbstkritischen katholischen Kirche. 2005 galt er zunächst als einer der Anwärter auf das Amt des Papstes, schied aber aus dem Rennen aus, nachdem er im Konklave zu wenig Stimmen erhalten hatte. Vor einer Woche verstarb der Jesuit im Alter von 85 Jahren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2012)

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