Thomas Haller: Barrierefreier Pionier für London

Thomas Haller Barrierefreier Pionier
Thomas Haller Barrierefreier Pionier(c) AP (Anthony Devlin)
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Für Haller sind behinderte Menschen gleichermaßen als Arbeitskräfte wie auch als Konsumenten wertvoll. Damit ist der Wiener Dressurreiter automatisch ein Pionier für die Organisatoren der Paralympischen Spiele.

Die Musik hört auf zu spielen, von der Tribüne aus rauscht Applaus durch die Arena. Sein Pferd und er trotten davon. Im hügeligen Hintergrund das Royal Observatory von Greenwich, wo das British Empire den Nullmeridian zog: West und Ost zugleich im Blick. Schon die opulente Kulisse macht die meisten Zuschauer hier glücklich. Aber Thomas Haller ist nicht zufrieden. „Wäre alles gut gelaufen, hätten wir es unter die ersten zehn schaffen können“, murmelt er kurz nach seinem Auftritt. „Aber auf einmal wurde er nervös.“


Auf Gehstützen. Im paralympischen Dressurreiten reicht es am Ende des Tages nur für Platz 16. „Aber mein Pferd hat viel gelernt.“ Als Leistungssportler und Unternehmer versteht Haller die Situation seines noch jungen Wallachs Dessino. „Es kommt ja alles mit der Erfahrung.“ Fehler müsse man machen, ehe man wisse, auf welche Weise verschiedene Hindernisse genommen werden könnten. „Dessino kam mit der Musik in der Vorstellung wohl nicht mehr klar.“

Dieser letzte Satz Hallers erzählt nicht nur etwas über sein Pferd, sondern auch über ihn selbst. Einige Anläufe brauchte der heute erfolgreiche Wiener Unternehmer, der seit seiner Geburt mit spastischer Diplegie gehbehindert ist, bis er seinen Weg fand. Als Kind durchlief Haller zwei Operationen, seit dem 13. Lebensjahr bewegt er sich auf Gehstützen. Trotz abgeschlossener Handelsakademie und einer absolvierten Computerschule folgten später immer nur Absagen auf seine Bewerbungen. „Ich hatte einfach die Schnauze voll“, erinnert er sich.


Neue Konsumentengruppe. Da ihm seine Tante einen geräumigen VW Passat Kombi geschenkt hatte, kam ihm die Idee, als Taxiunternehmer zu arbeiten. Viele in seinem Bekanntenkreis trauten Haller weder die Führerschein- noch die Unternehmerprüfung zu. Dennoch startete er 1986 als Einzelunternehmer einen Taxibetrieb. Das wahre Potenzial seines Geschäfts erkannte Haller erst nach ein paar Jahren. Weil sich sein Unternehmen „Haller Mobil“ auf Stammkunden spezialisierte, kamen vermehrt Anfragen von solchen Klienten, die eine regelmäßige Beförderung benötigten.

Gerade für Leute, deren Bewegungsfähigkeiten dauerhaft eingeschränkt sind, punktete Haller auch wegen seiner eigenen Behinderung sofort als fachkundiger Geschäftspartner. So baute er nach und nach eine Flotte von 70 Fahrzeugen auf, um jene Menschen befördern zu können, denen andere Taxiunternehmen wenig Beachtung schenkten. Neben Großraumtaxis für bis zu fünf Rollstühle und Krankentransportwagen verfügt der Betrieb heute über Sanitäter als Fahrtbegleiter.

In Menschen mit Behinderung entdeckte Haller eine kaum erschlossene Konsumentengruppe. Nicht nur Krankenkassen und Magistrate, die etwa für den Transport von kranken Personen und Schulklassen behinderter Kinder zuständig sind, benötigen spezialisierte Dienste. Generell sind rund zehn Prozent der Bevölkerung eines Landes schwerbehindert, ein Großteil davon hat Mobilitätseinschränkungen. In einer alternden Gesellschaft wie der österreichischen wächst zudem das Aufkommen altersbedingter Behinderung. Rund die Hälfte der Österreicher über 60 Jahre bezeichnet sich schon heute als im Alltagsleben „dauerhaft beeinträchtigt“.

„Diese Menschen sind unsere Kunden geworden“, sagt Thomas Haller jetzt mit einem zufriedenen Lächeln, als er sein enttäuschendes Abschneiden in Greenwich langsam zu verdauen scheint. Mit Kassen und Magistraten unterhält Haller Exklusivverträge, zudem operiert seine Flotte außerhalb Wiens. Von der Handvoll Unternehmen, die heute solche Dienstleistungen in Österreich anbieten, ist Hallers Betrieb mit rund 1.900 Fahrten pro Tag und einem Jahresumsatz von fünf Millionen Euro der größte. Haller war denn auch der erste Unternehmer mit Behinderung, der sich des Marktes annahm.


Häufiger arbeitslos. „Ich habe früher selber erlebt, wie schwierig es ist, mit nicht-barrierefreien Transportmitteln zu fahren. Unsere Geschäftspartner wissen, dass wir unser Handwerk genau verstehen und ernst nehmen.“ Menschen mit Behinderung sind nicht nur als Kunden wichtig für Haller Mobil. Rund zehn Prozent der heute 120 Mitarbeiter haben selbst eine Behinderung. „Eigentlich geht es mir um die Leistung. Aber solange die Arbeit erledigt werden kann, stelle ich gerne behinderte Kollegen ein.“

Damit übersteigt Hallers Unternehmen deutlich den gesetzlichen Anteil von einem behinderten Mitarbeiter pro 25 Angestellten, den viele österreichische Betriebe schon nicht erfüllen. Die Diakonie berichtet, dass oft lieber die Strafzahlung von rund 300 Euro pro Monat entrichtet wird. Während der Paralympischen Spiele in London ist deswegen nicht nur der Sportler Thomas Haller, sondern auch der Unternehmer von Interesse. Ziel ist es, durch die Sportveranstaltung „einen neuen Standard für Barrierefreiheit“ zu setzen, wie der Chef des Organisationskomitees, Sebastian Coe, erklärt hat. Menschen mit Behinderung sollen besser in den Arbeitsmarkt integriert werden – bisher sind sie häufiger arbeitslos und erhalten für gleiche Arbeit bis zu 20 Prozent weniger Lohn. Trotz dieser statistischen Benachteiligung bilden Menschen mit Behinderung in Industrieländern auch eine kaufkräftige Gruppe, die gerade durch Dienstleistungen besser „erschlossen“ werden soll.


150 Fitnesscenter. So sollen durch die neue barrierefreie Londoner Olympia-Infrastruktur weitere Unternehmen inspiriert werden und die elf Millionen Briten mit Behinderung besser in ihre Geschäfte integrieren; offiziellen Zahlen zufolge stehen sie für eine Kaufkraft von 80 Milliarden Pfund. Allein in London werden etwa 150 barrierefreie Fitnesscenter errichtet. Damit weitere Betriebe die häufig vernachlässigte Konsumentengruppe deutlicher wahrnehmen, hat die britische Regierung auch einen Ratgeber über behindertenfreundliches Wirtschaften herausgegeben.

Nun wird auf unternehmerische Initiativen gehofft. Gerade am Londoner Transportwesen beklagen Interessengruppen etwa regelmäßig, dass mobilitätseingeschränkte Menschen ausgeschlossen seien. So berichtet der Londoner Aktivist Sulaiman Khan, der mit einer Muskeldystrophie im Rollstuhl sitzt und auch die paralympischen Reiter in Greenwich bewundert hat, über kaum verfügbare Taxis: „Wenn ich eines brauche, muss ich am Tag vorher bestellen.“

Ob der Vernachlässigung behinderter Menschen mangelndes Interesse der Wirtschaft zugrunde liegt, vermag Thomas Haller nicht zu beurteilen. „Ein großes Problem sind die Fixkosten.“ Fahrzeuge mit Platz für einen Rollstuhl kosten in der Anschaffung rund 25.000 Euro, ein Wagen für mehrere Rollstühle das Doppelte. „Da muss sich einfach jemand trauen“, beklagt Sulaiman Khan. „In Großbritannien gibt es viele Menschen, die auf so etwas angewiesen sind und dafür zahlen würden.“

Das trifft auch in Österreich zu. Im kommenden Jahr plant Haller Mobil, eine eigene Taxizentrale zu gründen, um jährlich an die 300.000 Fahrten abwickeln zu können. „Wir sind im Endstadium der Vorbereitung“, kündigt Thomas Haller an. Auch damit spricht er wieder von zweierlei. Neben seinem Betrieb meint er noch das Pferdefestival „Global Champions Tour“, das Ende September in Wien stattfindet. Dort wird er seine Biografie in Buchform präsentieren und eine neue Vorführung mit seinem Wallach Dessino wagen. „Er hat sicher viel in London gelernt“, hofft Haller. Auch Sulaiman Khan hat eine Hoffnung: „Alle reden von der Hinterlassenschaft der Paralympischen Spiele. Momentan bin ich auf Jobsuche. Zu Bewerbungsgesprächen könnte ich besser kommen, wenn ich auch mal spontan ein Taxi nehmen könnte.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2012)

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