Münz: "Nur 15 Prozent unseres Lebens sind Arbeit"

(c) Clemens Fabry
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Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz kann einer alternden Gesellschaft auch Positives abgewinnen. Als Voraussetzung dafür nennt er nichts weniger als grundlegende Reformen in Pensions- und Bildungssystem.

Die Presse: Laut einer Studie der Bertelsmanns-Stiftung nehmen die Innovationsressourcen innerhalb einer alternden Bevölkerung ab. Der Bedarf danach steigt jedoch. Befinden wir uns in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale?

Rainer Münz: Ich widerspreche dem düsteren Szenario „Abwärtsspirale“. Die Alterung unserer Gesellschaft hat ja vor allem damit zu tun, dass unsere Lebenserwartung steigt – statistisch gesehen um sechs bis sieben Stunden pro Tag. Das ist jedenfalls eine gute Nachricht.

Entscheidend ist allerdings nicht nur, wie alt wir werden, sondern auch, wie wir alt werden.

Die meisten von uns wollen alt werden, aber nicht wirklich alt sein. Wir kommen heute jedenfalls gesünder ins höhere Alter. Die ältere Generation von heute hat kaum Notzeiten erlebt und seltener schwere körperliche Arbeit verrichtet als die Generationen davor. Heute ältere Frauen brachten weniger Kinder zu Welt als ihre Mütter und Großmütter. All dies führt dazu, dass die Menschen im Alter weniger „verschlissen“ sind. Wir können uns nicht mehr daran erinnern, dass man im 19.Jahrhundert um die 60-Stunden-Woche und nach 1945 um einen arbeitsfreien Samstag gekämpft hat. Wir sind heute einen viel kürzeren Teil unseres Lebens beruflich aktiv als früher. In Summe dauert ein Menschenleben heute etwa 700.000 Stunden. Davon verbringen wir zurzeit nur zehn bis 15 Prozent mit Erwerbsarbeit. Wir sind viel produktiver als unsere Vorfahren. Zugleich steigt aber die psychische Belastung durch Arbeit.

Dennoch: Die Österreicher scheinen davon weniger zu profitieren als andere EU-Länder. Die OECD fand heraus, dass sich in kaum einem anderen Mitgliedsland die Menschen gesundheitlich unwohler fühlen als hier. Oder verkürzt gesagt: Im Schnitt fühlen sich die Österreicher fast ein Viertel ihres Lebens durch Krankheiten gehandicapt.

Da ich die Studie nicht kenne, kann ich sie nicht unmittelbar kommentieren. Trotz einer möglichen Beeinträchtigung der Lebensqualität auch im jüngeren Alter konsumieren wir 50 Prozent aller Gesundheits- und Pflegedienstleistungen in den letzten zwei Lebensjahren.

Trotzdem ist es praktisch anerkannt, dass sich Österreichs Jugend beim Konsum von Alkohol und Nikotin besonders hervortut, in einem hohen Maß fettleibig ist und dabei die Basis für gesundheitliche Probleme im Alter legt.

Mir ist nicht bekannt, dass Österreichs Jugendliche besonders schlecht abschneiden. Übergewicht junger Menschen ist vor allem in den USA, in Saudiarabien und in den Golfstaaten ein Problem. Klar ist jedoch, dass der Zugang zu praktisch allen Nahrungsmitteln auch Probleme verursacht. Zugleich sind die Staaten aktiv – Stichwort: Einschränkung des Rauchens.

Im Zusammenhang mit der niedrigen Geburtenrate wird hierzulande oft von verfehlter Familienpolitik gesprochen. Gibt's denn überhaupt jenen magischen Schalter, der nur umgelegt werden muss und das Volk fruchtbar macht?

Zwei Fragen sind in diesem Zusammenhang interessant. Erstens: Wie viele Kinder bekommt eine Frau im Laufe eines Lebens? Da liegt Österreich seit den späten 1970er-Jahren bei ca. 1,4 Kindern. Da es mehr späte Mütter gibt, wird die tatsächliche Kinderzahl am Ende eher bei 1,7 liegen. Zweitens: Wie viele Geburten gibt es pro Jahr? Heute sind es weniger als vor 50 Jahren. Zum einen liegt das an den kleineren Familien und einer häufigeren Kinderlosigkeit. Zum anderen gibt es weniger potenzielle Eltern als zur Zeit des Babybooms. Auch dadurch sinken die Geburtenzahlen. Zum Teil wird diese Lücke durch Zuwanderer „aufgefüllt“.

Die Familienpolitik ist also machtlos?

Interessant ist doch, dass die durchschnittliche Kinderzahl pro Familie seit Jahrzehnten gleich bleibt. In dieser Zeit gab es fast alle denkbaren Regierungskonstellationen, die unterschiedliche Weltanschauungen repräsentierten. Ein Vergleich mit anderen OECD-Staaten zeigt: In Österreich ist die direkte finanzielle Förderung von Familien und Kindern größer als in den meisten anderen Ländern.

Am Geld liegt's also nicht?

Nein. Deutliche Lücken gibt es allerdings bei der institutionellen Kinderbetreuung. Beruf und Kinder sind gerade für gut ausgebildete Frauen mit Karrierechancen nicht leicht vereinbar, weil ein Ausstieg und späterer Wiedereinstieg in den Beruf möglicherweise mit einer Dequalifikation verbunden sind, jedenfalls aber erhebliche Karrierenachteile mit sich bringt. Das dürfte ein Grund dafür sein, warum die Kinderlosigkeit gerade in dieser Bevölkerungsgruppe hoch ist.

Gibt es Modelle, die Vorbild sein könnten?

In der Vergangenheit gab es in Österreich politische Widerstände gegen den Ausbau von Kindergärten und Ganztagsschulen. In Frankreich und den skandinavischen Ländern ist sowohl die Kinderzahl als auch die Frauenerwerbsquote höher als in Österreich. Das liegt auch an der flächendeckenden Kinderbetreuung. Anders gesagt: Eine Erhöhung der Familienbeihilfe nützt gar nichts, wenn ich mir dafür keine Kinderbetreuung „kaufen“ kann.

Nicht nur unser Nachwuchs wird weniger. Um die Spitzenkräfte unserer Gesellschaft ist ein weltweiter Kampf entflammt. Forscher werden mit Traumgagen nach China gelockt. Hat die Politik überhaupt schon erkannt, was dieser Brain-Drain langfristig für eine Gesellschaft bedeutet?

Wenn man die formalen Bildungsabschlüsse als Maßstab nimmt, hatten wir noch nie zuvor eine Bevölkerung, die so gebildet war. Und auch Zuwanderer, die heute zu uns kommen, sind qualifizierter als die Migranten der 1960er- und 1970er-Jahre. Österreich ist also auch für gebildete Menschen ein attraktiver Ort. Aber: Was uns fehlt, sind Spitzenuniversitäten, die mit Harvard, Oxford, Cambridge oder der ETH Zürich mithalten könnten. Was uns auch fehlt, ist eine breite berufliche Weiterbildung für Menschen, die schon längere Zeit erwerbstätig sind. Gerade in einer alternden Gesellschaft ist es wichtig, frisches Wissen in die Köpfe der erwachsenen Bevölkerung zu bringen.

Damit die Betroffenen länger im Beruf bleiben?

Ja, damit sie im erlernten Beruf produktiv bleiben. Oder damit sie ab einem gewissen Alter die berufliche Tätigkeit wechseln können. Denn nur zu sagen, dass wir alle länger arbeiten müssen, bleibt eine zynische Forderung, solange es für Ältere keinen funktionierenden Arbeitsmarkt gibt.

Das liegt aber auch an den Unternehmern. Heute schickt man Bestqualifizierte lieber in Altersteilzeit, als ihr Potenzial abzuschöpfen.

Das ist der große Nachteil von Kollektivverträgen, die Gehaltssteigerungen vom Alter oder der Betriebszugehörigkeit abhängig machen. Über die Lebenszeit müssen die Lohnkurven flacher werden, wenn Erwerbstätige länger beschäftigt bleiben sollen.

Immer weniger Arbeitende müssen immer mehr Nichterwerbstätige stützen.

Das ist kein Schicksal, sondern hängt davon ab, wann wir künftig in Ruhestand gehen. Ein dauerhaft stabiles Pensionssystem müsste einen demografischen Korrekturfaktor beinhalten. Bei steigender Lebenserwartung bestünde dann immer noch die Wahl zwischen einer geringeren Pension oder einem späteren Antritt. Jene, die eine niedrigere Pension länger beziehen, erhalten in Summe nicht weniger als jene, die länger arbeiten und im Alter mehr bekommen.

Ist es in Ordnung, dass Frauen trotz höherer Lebenserwartung früher in Pension gehen?

Die Altersdifferenz wird fallen. Der Verfassungsgerichtshof entschied schon 1990, dass das niedrigere Pensionsalter von Frauen eigentlich verfassungswidrig ist. Das Parlament beschloss damals, das gesetzliche Pensionsalter für Frauen bis 2033 auf 65 Jahre anzuheben und damit an jenes der Männer anzugleichen. Allerdings ist das eine rein theoretische Debatte, weil das faktische Pensionsantrittsalter der Männer derzeit bei 59 und jenes der Frauen bei 57 Jahren liegt.

Glauben Sie Politikern, die sagen, dass die Pensionen sicher sind?

Für die nächsten Jahre braucht sich wohl niemand Sorgen zu machen. Solange es Erwerbstätige gibt, die Beiträge zahlen, wird es auch Pensionen geben. Unklar ist für die Jüngeren allerdings, ab welchem Alter sie künftig wie viel bekommen werden. Nur wenn es uns gelingt, das tatsächliche Pensionsalter anzuheben, kann das System im Gleichgewicht bleiben. Als Alternative bleibt die individuelle Vorsorge.

Das Bevölkerungswachstum in Österreich konzentriert sich auf die Städte, insbesondere auf Wien. Wohnraum wurde dort nachfragebedingt sehr teuer. Stehen wir vor Londoner Verhältnissen?

Dem entgegenzusteuern ist eine große Herausforderung für die Wohnbauwirtschaft. Sinnvoll wäre, die aus der alten Wohnbauförderung zurückfließenden Mittel wieder verpflichtend für Zwecke des Wohnbaus zu widmen. Nicht zu vergessen ist die Wirkung des Pendlerpauschales. Wohnen auf dem Land wird dadurch relativ billiger und der städtische Wohnungsmarkt entlastet.

Rainer Münz ist Österreichs prominentester Migrations- und Bevölkerungswissenschaftler. Momentan leitet er die Forschungsabteilung der Erste Group. Nach dem Studium an der Universität Wien begann der 1954 in Basel geborene Münz seine wissenschaftliche Karriere als Direktor des Instituts für Demografie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im Anschluss folgte der Wechsel als Professor für Bevölkerungswissenschaft an die Berliner Humboldt-Universität. Neben mehreren Auftritten als Gastprofessor im Ausland (Berkley, Bamberg, Frankfurt, St. Gallen, Wien und Zürich) war er als Konsulent für OECD und Weltbank tätig, er beriet die Regierungen von Griechenland, die Niederlande und Slowenien während ihrer EU-Präsidentschaften.

Münz' bevorzugte Themengebiete sind: demografische Alterung, internationale Migration, Bevölkerung und Gesellschaft, aber auch Europa, Politik und Wirtschaft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2012)

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