Die Forderung nach einer Gesamtschule ist in der Theorie richtig. Scheitert in der Praxis aber an der bildungspolitisch visions- und mutlosen Regierung.
Ideologien sind etwas ungemein Praktisches. Die eigene Meinung ist rasch gebildet, Argumente sind schnell bei der Hand, Positionen müssen nicht ständig überdacht werden. Und von Fakten muss man sich kaum beeindrucken lassen. Blöd nur, wenn die Diskrepanz zwischen eigenem Weltbild und der Realität so groß wird, dass sich der Widerspruch auch durch noch so glänzende Beweisführung nicht länger verbergen lässt.
Vor genau diesem Dilemma stehen die Regierungsparteien in der Bildungspolitik. Relativ knapp, deshalb aber nicht weniger richtig zusammengefasst, ließe sich mit Blick auf die nötigen Reformen sagen: In Schulbelangen ist derzeit wohl den bösen Gesamtschulbefürwortern in der SPÖ recht zu geben, in Uni-Belangen aber den vermeintlich gleichheitsfeindlichen Zugangsbeschränkern in der ÖVP. Nicht nur, weil ein simpler politischer Abtausch das Höchste ist, was man der kraftlosen Koalition derzeit noch zutraut. Sondern vor allem, weil die gesellschaftliche Realität eine klare Sprache spricht. Auch, wenn das Ideologen so gar nicht gefällt.
Die wenig schmeichelhaften Erhebungen der OECD hätte es für diese nicht ganz neue Feststellung freilich nicht gebraucht. Sie verdeutlichen aber, wie drängend das Problem ist. Die OECD hat festgestellt, dass Chancen auf einen „Bildungsaufstieg“ in kaum einem Land so gering sind wie in Österreich. Sie hat festgestellt, dass die Schuld im Schulsystem zu suchen sei, in dem sozial Benachteiligte – oftmals Migranten – „in wenigen Schulen stark konzentriert“ sind. Und sie hat festgestellt, dass Studiengebühren den Bildungsaufstieg nicht beeinträchtigen. Das ist ein klarer Aufruf zu einer Gesamtschule. Selektiert werden darf nicht im Alter von zehn Jahren. Sondern später, und auch an den Unis, durch harte Zugangstests. Zusätzlich müssen die Unis, sobald die Qualität stimmt, stärker privat finanziert werden.
Man könnte nun – das ist der einfache Weg – Energie darauf verwenden zu erörtern, warum die OECD falschliegt. Man könnte aber auch eingestehen, dass diese Studie weder unseriös noch die erste und einzige ist, die zu diesem Schluss kommt. Und überlegen, ob der Istzustand des Bildungssystems nicht doch zu überdenken wäre. Denn, nicht zu vergessen: Das Bildungssystem ist nicht deshalb so, wie es ist, weil es so erfolgreich ist. Sondern, weil sich SPÖ und ÖVP zu keiner Weiterentwicklung durchringen. Die SPÖ gefällt sich zu gut in der falsch interpretierten Rolle als Verteidigerin der Arbeiterschicht. Die ÖVP will die „Bürgerlichen“, die ihre Kinder (nicht zwingend wegen ihrer Begabung, sondern auch aus Tradition) in das schicken, was wir Gymnasium nennen, nicht vergrämen.
Während die SPÖ die Ablehnung, die sie der Uni-Gebühr entgegenbringt, nicht einmal zu argumentieren versucht, versteckt sich die ÖVP hinter falschen Behauptungen: Bis heute konnte niemand schlüssig erklären, warum die Trennung in AHS-Unterstufe und Neue Mittelschule per se Talente fördern soll. Um zuzugeben, dass es ihr vor allem darum gehe, ihre Wähler davor zu schützen, den Nachwuchs mit muslimischen Parallelgesellschaftskindern in eine Schule schicken zu müssen, fehlt der Mut. Den Vorwurf, dass man – um das halbwegs gut funktionierende Gymnasium zu erhalten – in Kauf nimmt, dass andere Schulformen vor allem in Städten Bildungsverlierer produzieren, muss sich die ÖVP gefallen lassen. Dass dies ungerecht, vor allem aber teuer, weil arbeitsmarktpolitisch unsinnig ist, weiß sie.
Leider ist es zugleich genau dieser Mangel an politischem Geschick und Visionen der Koalition, der die Forderung nach einer Gesamtschule in Österreich unverantwortlich macht. Dass die Regierung – allen voran Ministerin Claudia Schmied – ein qualitätsvolles Modell mit innerer Differenzierung auf die Beine stellen kann, kann fast ausgeschlossen werden. Nicht zuletzt, weil eine Gesamtschule, die keine Nivellierung nach unten mit sich bringt, zuerst eine Integrationspolitik benötigen würde, die aus mehr als aus Überschriften besteht. Unsere Kinder sind keine bildungspolitischen Versuchskaninchen.
Bevor wir ein leistungsfähiges Schulsystem konzipieren können, benötigen wir also eine leistungsfähige Regierung. Letzteres ist wohl das schwierigere Vorhaben
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2012)