Die vergangenen sieben Tage haben das Zeug, in die Geschichtsbücher einzugehen. Die Politik hat nämlich zwei zentrale Weichenstellungen vorgenommen.
Der deutsche Verfassungsrechtler Gunnar Beck wird sich wohl einmal kräftig auf die eigenen Schultern geklopft haben. Herr Beck sagte den am gestrigen Mittwoch gefällten Entscheid der deutschen Höchstrichter über den permanenten Rettungsschirm „ESM“ nämlich punktgenau voraus: „Wenn das Gericht den ESM-Vertrag tatsächlich kippen sollte, würde es damit die bislang größte Eurokrise heraufbeschwören. Ich bin mir sicher, dass die Richter den Vertrag nicht fundamental angreifen werden, obwohl er völlig rechtswidrig ist! Es wird allenfalls Vorschläge für kleinere Korrekturen geben.“
Und so kam es dann auch: Deutschland „darf“ für die Schulden anderer Eurostaaten haften, allerdings nicht unter Umgehung des Bundestages.
Nun könnte man freilich einwenden, dass es keine hellseherischen Fähigkeiten brauchte, um zu dieser Einschätzung zu kommen. Erstens standen nur zwei Wege offen, zweitens erwartete so gut wie niemand, dass die Karlsruher Verfassungsrichter den Eurorettern ins Handwerk pfuschen würden.
Nicht schwer zu erkennen ist freilich auch, dass sich in den vergangenen sieben Tagen Dinge zugetragen haben, die das Leben der Europäer nachhaltig verändern werden. Da hätten wir einmal den Beschluss der Europäischen Zentralbank (EZB) vom vergangenen Donnerstag, künftig „unbegrenzt“ Schulden notleidender Eurostaaten aufzukaufen. Damit hat die EZB klargestellt, alles zu tun, um ein Auseinanderbrechen der Gemeinschaftswährung zu verhindern.
Womit die europäische Geldpolitik völlig neu ausgerichtet wurde. Oberstes Ziel ist nicht mehr der Erhalt des Geldwertes, sondern die Finanzierung klammer Euroländer. Das mag tatsächlich die einzig wirksame Strategie sein, um den Zerfall der Eurozone zu verhindern, ändert aber nichts daran, dass der eingeschlagene Weg brandgefährlich ist. Die alles entscheidende Frage ist nämlich nicht, wer für die Hilfsgelder haftet, sondern warum auch nur ein einziger Staat seinen Haushalt in Ordnung halten (oder bringen) soll, wenn die benötigten Mittel ohnehin aus dem Bankomaten der Notenbank kommen.
Zwar wird der Ankauf von Staatsschulden der EZB an die Erfüllung von Auflagen geknüpft, den Regierungen in den Krisenländern ist aber bestimmt schon aufgefallen, dass sie auch dann gerettet werden, wenn sie auf die versprochenen Reformen pfeifen. Europa ist längst erpressbar geworden, allein die Aussicht auf einen Zerfall der Eurozone öffnet heutzutage alle Tresore.
Nicht zuletzt deshalb sind mit den jüngst gefällten Entscheidungen auch unweigerlich die Weichen in Richtung „Vereinigte Staaten von Europa“ gestellt. Die souveränen Mitgliedstaaten werden weite Teile ihrer Macht an einen übergeordneten „Superstaat“ delegieren müssen. Argumentiert wird die Notwendigkeit der Abgabe nationaler Souveränität bezeichnenderweise mit der budgetären Not der Eurostaaten: Werden deren Finanzen künftig nicht von übergeordneter Stelle gesteuert, könnte die Rettungspolitik vollends zum Fass ohne Boden werden. Die selbst ernannten Verfechter eines „starken Europa“ nutzen also die nicht zuletzt von ihnen zu verantwortende Staatsschuldenkrise dazu, ihren Zentralisierungsneigungen ungeniert freien Lauf zu lassen. Das hat was.
Und dennoch wird dieser europäische „Superstaat“ kommen. Statt alle Energie dafür aufzuwenden, ihn zu bekämpfen, wäre es wohl besser, ihn zu gestalten. Um zu verhindern, dass am Ende eine europäische Planwirtschaft steht, die für ihre Bürger lenkt und denkt. Dem Traum eines gleichgeschalteten Europa, das allen Mitgliedsländern einheitliche Steuersätze und Sozialstandards vorschreibt, sollte deshalb schleunigst das Modell Schweiz entgegengesetzt werden. Ein übergeordnetes Staatsgebilde, das eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verfolgt und ihren Regionen Ausgaben- und Schuldenbremsen vorschreibt, ihnen aber weitgehende Steuerautonomie gewährt und sie selbst entscheiden lässt, welchen Sozialstaat und welche Bildungspolitik sie haben wollen.
Gerade weil man kein Prophet sein muss, um zu sehen, dass das nicht jene „Vereinigten Staaten von Europa“ sind, auf die wir derzeit zusteuern.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2012)