Tomáš Sedláček: "Das BIP ist eine dumme Statistik"

Sedlek eine dumme Statistik
Sedlek eine dumme Statistik(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Laut dem tschechischen Ökonomen ist Wachstum bei gleichzeitiger Verschuldung der Staaten eine Schimäre und Gier keine schlechte Eigenschaft, solange sie nicht ausartet. Ein "Presse"-Interview.

Sie schreiben in Ihrem Buch über die guten und die schlechten Elemente der Ökonomie. Ist Gier nun gut oder böse?

Tomáš Sedláček: Das ist nicht eindeutig zu beantworten. Gier, im Sinne des Wunsches nach mehr, ist ein Antreiber des Fortschritts, was als gut zu bewerten ist. Gleichzeitig wird Gier in allen Schriften der Menschheitsgeschichte als Beginn des Unterganges beschrieben. Man denke nur an Adam und Eva, wo die Gier nach der einen Frucht die Vertreibung aus dem Paradies bringt. Man sieht also, dass es diese Debatte nicht erst seit der jüngsten Finanzkrise sondern schon seit dem Beginn der Menschheit gibt.

Wem sollen wir aber mehr glauben? Den alten Mythen oder den Ökonomen, die sagen: Aus der Summe der egoistischen Entscheidungen der Individuen ergibt sich für alle ein Vorteil – die berühmte unsichtbare Hand des Marktes.

Die Frage ist, wie wir Egoismus definieren. Bedeutet das, nur für sich persönlich das Beste zu wollen, oder auf das Beste für die eigene Familie, Firma oder Nation zu achten? Ist Letzteres noch Egoismus? In der klassischen Ökonomie gibt es ja nur vordergründig einen Widerspruch zwischen Egoismus und Altruismus. Nehmen wir das Beispiel, das Adam Smith verwendete: Der Fleischer, der sein Fleisch nur deswegen anbietet, um damit ein Geschäft zu machen, durch diese Tätigkeit aber Teil der allgemeinen Nahrungsversorgung wird. Der Fleischer glaubt, egoistisch zu handeln, obwohl die Folgen davon altruistisch sind. Und auch in den alten Schriften spricht kaum jemand von Altruismus. So sagte etwa Jesus: „Liebe deinen Nachbarn wie dich selbst.“ Er sagte nicht: „Liebe ihn mehr.“ Es ist also kein Problem, sich selbst sehr zu lieben, sofern man dies auch bei seinen Nachbarn tut.

War die Kritik nach der Finanzkrise, wonach Gier an allem schuld sei, also falsch, weil die Folgen ohnehin altruistisch sind?

Es geht wie bei allem darum, die Extreme zu vermeiden. So sagte schon Aristoteles, dass aus jeder Tugend ein Laster werden kann, wenn sie übertrieben wird. Selbst übertriebene Mutterliebe kann schädlich werden, oder Liebe sich in Eifersucht verwandeln.

Ein bisschen Gier ist also gut, aber es darf nicht zu viel werden.

Genau. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Ökonomie. Ein bisschen davon ist gut, aber inzwischen nehmen wir sie zu ernst und zu wichtig. So wird der ganze Zustand Europas nur mehr über den ökonomischen Zustand definiert.

In Ihrem Buch vergleichen Sie den Konsum mit Drogen – man brauche immer mehr, um daraus wieder ein positives Gefühl zu beziehen. Sollen wir weniger konsumieren?

Es gibt nicht nur die beiden Optionen mehr oder weniger zu konsumieren. Wir könnten unser Konsumlevel auch konstant halten. Der Wunsch nach immer mehr wird in unserem Wirtschaftssystem geradezu religiös gesehen. Das sieht man auch an der Krise. Wir fühlen uns richtiggehend religiös enttäuscht, weil das System, an das wir glaubten, nicht mehr das erfüllen kann, was wir von ihm wollen – mehr zu konsumieren. Das ist keine Krise des Kapitalismus, sondern eine Krise des Wachstumskapitalismus.

Die Gegner des Kapitalismus empfinden die Krise aber als dessen Niederlage.

Es gibt überhaupt kein Problem mit dem Kapitalismus an sich. Es geht nur um die Frage des Wachsen-Müssens. Und die Philosophie des Nichtwachsens ist auch keine linke Idee. So wollten etwa die Kommunisten laut ihren Fünfjahresplänen wie verrückt wachsen. Nichtwachstum ist hingegen eher eine Idee der Rechten. So sprachen auch Adam Smith und Joseph Schumpeter davon, dass die Wirtschaft einen gleichbleibenden Zustand erreichen könne. Meiner Meinung nach kommen wir nur aus der Krise, wenn wir sagen: Es ist eigentlich gar keine Krise. Bleiben wir doch für ein paar Jahre auf dem Stand, auf dem wir sind.

In Ihrem Buch fordern Sie den Wandel von der Wachstumsmaximierung zur Schuldenminimierung. Wie soll das gehen?

Wir haben durch die Verschuldung Stabilität hergegeben, um Wachstum zu kaufen. Und ich glaube, wir müssen nun Wachstum hergeben, um wieder Stabilität zu erlangen. Ich verstehe daher auch die Kritik an Angela Merkel nicht, wenn es heißt, ihre Politik werde das Wachstum senken. Genau darum geht es ja.

Aber gerade Wachstum verbessert doch den Zustand der Menschheit. So musste laut UNO vor 20 Jahren noch jeder zweite Mensch auf der Welt hungern, heute nur mehr jeder vierte. Das war nur durch das globale Wirtschaftswachstum möglich.

Wachstum ist nicht schlecht, wenn es real ist, so wie in den Entwicklungsländern, in denen die Menschen dadurch dem Hunger entkommen. In den USA oder Europa haben wir aber schon seit Jahren kein reales Wachstum mehr. Denn wie kann man sagen, das BIP wächst um zwei Prozent, wenn wir uns gleichzeitig um drei oder vier Prozent des BIPs verschulden? Wir wollen wachsen, glauben aber gleichzeitig, dass wir wachsen müssen. Wenn jemand etwas will, dann ist er ein freier Mann. Wenn er aber etwas muss, dann wird er zu einem Sklaven.

Das Problem ist also, dass wir das Wollen und das Müssen miteinander verwechseln?

Ja, das ist das erste Problem. Das zweite ist, dass wir zu genau messen. Wissen Sie, wie stark Ihr Einkommen von 2011 auf 2012 gestiegen ist?

Etwa dreieinhalb Prozent.

Können Sie mir nicht die genaue Zahl sagen? Waren es 3,4 Prozent oder 3,7 Prozent?

Da müsste ich nachsehen.

Sehen Sie. Auf persönlicher Ebene sind uns Kommastellen hinter den Prozenten völlig gleichgültig. Wenn es aber um ganze Staaten geht, dann sind wir plötzlich auf die genauen Zahlen fixiert. Da heißt es dann: „Wir haben nur 1,1 Prozent, obwohl wir 1,8 Prozent erwartet haben. Jetzt gehen wir alle unter.“ Eigentlich ist es lächerlich.

In Ihrem Buch schreiben Sie, wären die USA auf dem Lebensstandard von vor 20 Jahren geblieben, müssten ihre Einwohner heute um 30 Prozent weniger arbeiten. Jetzt bedeutet Wachstum aber auch qualitatives Wachstum. So nimmt die Zahl der Autos kaum mehr zu, aber sie werden sicherer. Wäre das Wachstum in diesem Bereich vor 20 Jahren stehen geblieben, wäre auch die Zahl der Unfalltoten auf dem Niveau der 1990er.

Das stimmt. Das wäre der Abtausch. Ich sage ja nicht, dass wir das tun sollen. Ich sage nur, dass wir uns bewusst sein sollten, was der Preis für bessere Autos ist. Nämlich, dass wir ohne sie nur mehr drei Tage die Woche arbeiten müssten.

Kann das auf globaler Ebene funktionieren? Wenn die Industrieländer sagen, wir arbeiten weniger und sind glücklich mit dem, was wir haben, dann verlieren wir an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Ländern wie China. So hat etwa Frankreich seit Einführung der 35-Stunden-Woche deutlich an Konkurrenzfähigkeit verloren.

Wenn wir die Produktivität von Frankreich und den USA vergleichen, dann haben die Franzosen auf Jahresbasis verloren, weil sie längere Urlaube haben und weniger Wochenstunden arbeiten. Wenn wir uns jedoch die Stundenproduktivität ansehen, dann sind Franzosen produktiver als Amerikaner. Wenn die Franzosen arbeiten, sind sie also viel effektiver. Und die Frage ist: Welche Nation ist wohlhabender? Eine mit möglichst hohem BIP mit einer 45-Stunden-Woche und ohne Urlaub oder eine mit einem etwas kleineren BIP und dafür mehr Zeit für Dinge abseits der Arbeit. Nehmen wir ein Beispiel aus der Populärkultur: „Herr der Ringe“. Das BIP des von Orcs bewohnten Mordor ist sicher höher als jenes des von Elfen bewohnten Rivendell. Aber wo würden Sie lieber wohnen? Das ist natürlich ein Extrembeispiel, aber im Grunde trifft es die Diskussion, die wir führen müssen.

Wir brauchen also etwas anderes als das BIP, um den Reichtum einer Nation zu bewerten?

Ja. Das BIP ist eine extrem dumme Statistik. Wenn wir in Tschechien alle Bäume umschneiden und verarbeiten, dann geht unser BIP nach oben. Wenn man die Kinder in Fabriken statt in die Schule schickt, geht das BIP nach oben. Aber warum müssen wir überhaupt zählen? Wir sagen ja auch nicht: Heuer bin ich um 13,2 Prozent glücklicher als vor einem Jahr.

Sie meinen also, wir sollten wirklich aufhören, den Zustand der Nationen durch das BIP oder eine andere Zahl zu bewerten?

Ich habe kein grundsätzliches Problem damit, etwas zu zählen. Das Problem mit dem BIP und der Ökonomie im Allgemeinen ist jedoch: Es gibt sehr viele Dinge in unserem Leben, die für uns einen Wert haben. Gegenstände, die wir besitzen, Freundschaften, die Beziehung zu unserer Familie oder der Blick auf eine schöne Blume oder ein schönes Bild. Aber nur ein paar davon haben eine Nummer. Und wir wissen das. Das heißt, auch ein ökonomischer Glücklichkeitsindex, so komplex er auch berechnet sein mag, wird nie alle wichtigen Werte in unserem Leben umfassen können. Im Mittelalter stritten Gelehrte jahrelang darüber, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben. Heute lachen wir über solche Diskussionen. Damals wurde das Thema sehr ernst genommen. So wie wir heute das BIP sehr ernst nehmen.

Der Berater Havels

Tomáš Sedláček ist einer der bedeutendsten jungen Ökonomen der Gegenwart. Die Karriere des 1977 geborenen Tschechen begann früh. So wurde er 2001 nur wenige Wochen nach seiner Promotion zum ökonomischen Berater des damaligen tschechischen Präsidenten Václav Havel. Der Grund dafür sei gewesen, dass Havel keine Berater wollte, die ihre wissenschaftliche Ausbildung noch während der Zeit des Kommunismus erhalten hatten, verriet Sedláček der „Presse am Sonntag“. In dieser Funktion erhielt er mit Mitte zwanzig die Aufgabe, das Steuersystem zu reformieren.

Internationale Bekanntheit erlangte Sedláček 2009 durch sein Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“, das sich auch hierzulande wochenlang in den Bestsellerlisten hielt. Darin stellt er die Ökonomie als Teil der menschlichen Kulturgeschichte anhand von Beispielen, beginnend mit dem Gilgamesch-Epos und dem Alten Testament über die Klassiker der Ökonomie wie Adam Smith bis hin zu Filmen wie „Matrix“ oder „Fight Club“, dar. Er kritisiert darin vor allem den auf Schulden aufgebauten Zwang zum Wachstum der modernen Industriegesellschaften.
Inzwischen arbeitet Sedláček als Chefvolkswirt der tschechischen Handelsbank (ČSOB) und ist Mitglied des nationalen Wirtschaftsrates, der die Regierung berät. Zudem unterrichtet er an der Prager Universität Wirtschaftsgeschichte und -philosophie. Er hält heute, Sonntag, auf der Globart Academy in Krems ab 10 Uhr einen Vortrag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2012)

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