Ohio: „Polarisiert bis zur Handgreiflichkeit“

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USA Wahlen(c) AP (Charles Dharapak)
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Der Schlachtfeldstaat im Mittelwesten hat entscheidende Bedeutung für die Wahl. Kein Republikaner gewann je ohne einen Sieg in Ohio. Und Barack Obamas Vorsprung schrumpft.

Sandusky. Einsam ziehen zwei junge Mormonen-Missionare, akkurat in ihrer „Uniform“ – weißes Hemd, schwarzer Anzug und Krawatte –, die Columbus Avenue hinunter. Auf der Suche nach verlorenen, orientierungslosen Seelen haben sie an diesem grauen, regnerischen Freitagnachmittag indes wenig Glück. Obwohl desillusioniert und oft verbittert, lassen die wenigen, denen sie über den Weg laufen, sie abblitzen.

Die Hauptschlagader des 25.000-Einwohner-Städtchens Sandusky, die zum Eriesee führt, verströmt die Aura einer Geisterstadt. Der Stadt, einst eine Touristendestination im Industrierevier, hat bessere Tage gesehen. Schmutzstarre, leere Auslagen künden davon, dass manche Läden schon länger geschlossen sind. Selbst das mit Slogans zugeklebte lokale Wahlkampfbüro der Demokraten hat heute bereits zugesperrt.

Paul Lazarsfeld und der „Opinion Leader“

Sandusky und der Wahlkreis am Eriesee im Norden Ohios sind in die Geschichte der Wahlforschung eingegangen. Der aus Österreich emigrierte Sozialforscher Paul Lazarsfeld und sein Team haben in der bahnbrechenden Studie „People's Choice“ die Rolle des „Opinion Leader“ nachgewiesen, als sie 1940 eine Feldforschung im Präsidentschaftswahlkampf betrieben. Der „Opinion Leader“, so besagt die These, saugt die Informationen aus den Medien auf und beeinflusst die Meinung in seinem Umkreis.

An starken Meinungen herrscht bei Larry Loretta jedenfalls kein Mangel. Der Vietnam-Veteran sitzt im Ramschladen Wood Apples gelangweilt hinter einem Schreibtisch, er hält gleichsam „Wache“. Am Eingang hat der Besitzer des Shops ein Romney/Ryan-Schild affichiert, umso mehr zieht Loretta gegen das republikanische Spitzenduo vom Leder. „Das ist doch ein Lügner“, sagt er über Mitt Romney, der ihm in seinem ganzen Wesen suspekt erscheint.

„Der Kerl lächelt zu viel. Ich will keinen Wall-Street-Typen im Weißen Haus sitzen haben. Amerika ist zu gierig geworden. Wir sind die, die kämpfen – und die machen die Dollars.“ Und Paul Ryan? „Der sieht aus wie ein Eichhörnchen. Ich hasse die Vorstellung, ihn eines Tages als Präsident zu sehen.“ Die Frauen, glaubt er, würden einen Wahlsieg der Republikaner verhindern. „Denn wer Ohio gewinnt, gewinnt die Wahl.“

Mit den Industriestädten im nördlichen „Rust Belt“ und den ländlichen Gegenden im Süden glich der Staat im Mittelwesten lange einem Mikrokosmos der USA. Heute spiegelt er mit seiner Dominanz an Weißen indes nicht mehr die ethnische Vielfalt wider. Dennoch kommt dem Bundesstaat bei den Wahlen eine entscheidende Bedeutung zu.

Wer am Eriesee entlangfährt, dem bietet sich ein soziografisches Bild der „Suburbia“ Clevelands. Wo in den Mittelstandsvororten wie Lakewood die himmelblauen Obama/Biden-Poster aus den Vorgärten ragen, weichen sie in Avon Lake vor den Herrenhäusern den tiefblauen Schildern des Romney/Ryan-Tickets. „Nope“, heißt es auf einem kurz und bündig – amerikanisch für „No“ und mit dem Obama-Wahllogo zugleich eine Verunglimpfung von „Hope“, der Obama-Parole von 2008.

„GM lebt, Osama bin Laden ist tot“

Ohio ist der „Battleground-State“ Nummer eins. „Ohio, Ohio, Ohio“, lautete einst das Mantra des NBC-Journalisten Tim Russert. Kein Republikaner hat je die Wahl gewonnen, ohne in Ohio zu siegen. Die „Reagan-Demokraten“ verhalfen 1980 Ronald Reagan zum Erfolg gegen Jimmy Carter. Reagan hatte die weiße, prodemokratische Arbeiterschaft, oft in Gewerkschaften organisiert, auf seine Seite gezogen. Zuletzt gelang nur John F. Kennedy 1960 ein Triumph bei der Präsidentenwahl ohne einen Sieg in Ohio.

Mehr als 170 Millionen Dollar haben die Parteien in Ohio in den Wahlkampf gepumpt. Obama und Romney, unterstützt von ihren Stellvertretern Joe Biden und Paul Ryan, absolvierten in den vergangenen Wochen mehr als ein Dutzend Auftritte in dem Bundesstaat. Radio und TV dröhnen von Werbespots, die Haushalte können sich der Anrufe – der „Robo-Calls“ – und der Postwurfsendungen kaum erwehren. „Keiner von uns“, trommeln die Demokraten gegen Romney. „Er hat zwei Harvard-Abschlüsse – und will bei den Bildungsausgaben kürzen?“

Sein Plädoyer für den Bankrott der Autoindustrie wirkt sich für Romney fatal aus. „Lasst Detroit pleite gehen“, lautete der Titel seines ominösen Gastkommentars. Inspiriert von der Formel Bidens haben Anhänger Obamas eine Werbebotschaft vor einer Autofabrik angebracht: „GM lebt, Osama bin Laden ist tot.“ General Motors hat sich gesundgeschrumpft, die Fabriken stellen wieder Arbeiter an, die Arbeitslosigkeit ist in Ohio auf sieben Prozent gesunken – unterhalb des nationalen Durchschnitts.

Vor „Daly's Pub“ in Sandusky ziehen zwei Männer an ihren Zigaretten. Sie schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben, wollen Obama aber eine zweite Chance geben. Dennoch hat sich der Vorsprung des Präsidenten im „Buckeye State“ auf fünf Prozentpunkte halbiert. „Unsere Nachbarschaft ist polarisiert, bis hinein in die Familien“, merkt der pensionierte Gewerkschafter Bob Tapenhart an. „Das geht beinahe bis ins Handgreifliche.“ Bei der weißen Arbeiterklasse stößt Obama auf Skepsis.

„Ich habe bereits gewählt“, sagt der Mann mit dem weißen Vollbart auf der Columbus Avenue, der eine Schachtel Nägel in seinen Pick-up-Truck lädt. „Sicherlich nicht Obama“, fügt er im Nachsatz an. Auch die Stimme von Rick Heinz, eines Obama-Wählers, hat der Präsident so gut wie verloren. Der LKW-Fahrer im Karo-Flanellhemd wartet im Friseursalon Acme auf seinen Haarschnitt. „Ich bin sauer auf Obama. Er häufte enorme Schulden für meine Enkelkinder an. Die Regierung ist ein Business, es ist Zeit für einen Business-Mann.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2012)

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