Wahlen in der Ukraine: Klitschkos schwierigster Kampf

Vitali Klitschkos schwierigster Kampf
Vitali Klitschkos schwierigster Kampf(c) AP (Sergei Chuzavkov)
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Bei den Parlamentswahlen in der Ukraine tritt Vitali Klitschko mit seiner Partei Udar an. Sie hat gute Chancen, zweitstärkste Kraft im Parlament zu werden. Die "Presse" hat ihn auf seiner Wahlkampftour begleitet.

Der Arbeitstag beginnt mit einem Kopfeinziehen. Die Eingangstür des Fernsehsenders Awers ist nicht für Männer mit zwei Meter Körpergröße gebaut, und so groß ist Vitali Klitschko nun einmal. Doch Klitschko ist ein Meister der Deckung, und in der Eingangshalle des Lokalkanals richtet er sich sekundenschnell wieder auf, wünscht der stramm aufgereihten Belegschaft „Guten Morgen“ und hechtet hinauf in den ersten Stock. Es ist Dienstag, der ukrainische Wahlkampf liegt in seinen letzten Zügen, und Klitschko ist in Topform.

Es ist der erste Programmpunkt: 10.45 bis 11.30 Uhr, Interview im Lokalfernsehen von Lutsk, Wolhynien, eine Stunde fährt man von hier zur polnischen Grenze, sechs Stunden nach Kiew. Klitschko trägt dunkelblaue ordentliche Jeans, weißes Hemd, ein simples schwarzes Sakko. In seinen blankpolierten Herrenschuhen eilt er durch den schummrigen Gang ins Studio. Am Boden wellt sich Linoleum mit Holzmaserung, an den Wänden in der verrauchten TechnikerKoje hängen vergilbte Poster der ukrainischen Fußballnationalmannschaft, die Gerätschaft ist in die Jahre gekommen, der Moderator ebenso.

Wo er ist, ist Begeisterung. Doch der ärmliche Schmuddel der Provinz kann Klitschko nichts anhaben, im Gegenteil: Wo er ist, sind Hoffnung und Begeisterung und Erwartungen, die sogar einen Mann von zwei Metern um ein Vielfaches überragen. Wo er hinkommt, wartet schon die Menge. Hunderte, Tausende haben seine Kundgebungen besucht. In den Wochen vor den Parlamentswahlen, die am Sonntag entschieden werden, ist aus dem Sportstar ein Politstar geworden. Seit Wochen tourt der 41-Jährige durch die ukrainische Provinz, hat alle Regionen abgeklappert. Gestern Transkarpatien, heute Lutsk, morgen Riwne. Wahlveranstaltungen auf Dorfplätzen, Pressekonferenzen, Interviews.

Es sind meist wohlgesonnene Fragen, die Klitschko beantworten muss, auch jetzt im Studio von Awers, doch es gibt eine potenzielle Killerfrage, und Klitschko kennt sie genau. Sie lautet: Würde er, der sich jetzt als Oppositionspolitiker präsentiert, nach den Wahlen nicht vielleicht doch mit der Regierungspartei, der Partei der Regionen, kooperieren? Er habe es schon hundertmal gesagt, antwortet Klitschko dann, und er wird dies an diesem Tag noch Dutzende Male wiederholen: Er werde „sicher nicht“ mit der Partei der Regionen oder den Kommunisten gemeinsame Sache machen.

Dann berichtet er von behördlichen Belästigungen seiner Kandidaten in verschiedenen Wahlkreisen. Die Partei der Regionen, sagt Klitschko, diene „nur den Oligarchen und einigen Leuten in der Präsidialadministration“. Er selbst sei nicht wegen des Geldes in die Politik gegangen. „Geld habe ich selbst genug. Es geht um Ideen – und um die Verwirklichung von Träumen.“ Worte wie diese bringen das Studio zum Strahlen. Als das Gespräch vorbei ist, atmet Klitschko tief durch. Es geht weiter.
Irgendwie rechts und liberal. Klitschko ist zum Herausforderer der Partei der Macht avanciert, die Umfragewerte seiner Partei Udar (Schlag) sind vom einstelligen in den zweistelligen Bereich in die Höhe geklettert. Die Partei könnte zweitstärkste Kraft im Parlament werden, gleich nach der Partei der Regionen, deren Personal seit dem Amtsantritt von Präsident Viktor Janukowitsch vor zweieinhalb Jahren endgültig die politische Landschaft der Ukraine beherrscht.

Udar ist die Abkürzung für den Allerweltsnamen „Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen“, die Partei ist ideologisch irgendwo im rechtsliberalen Dunstkreis positioniert, so genau weiß man das nicht, sie lässt sich jedenfalls von der deutschen CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung coachen. Klitschko versammelt die früheren Anhänger der Orangen Revolution hinter sich, jene, die vor einigen Jahren für die Partei „Unsere Ukraine“ des früheren prowestlichen Präsidenten Viktor Juschtschenko oder für die „Vaterlandspartei“ der inzwischen verhafteten Julia Timoschenko gestimmt haben. Diese tritt mit anderen Kleinparteien als „Vereinigte Opposition“ auch bei diesem Urnengang an, hat aber für viele an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Orange ist nicht mehr die Farbe der Sieger. Klitschkos Farbe ist Rot.

Mit Timoschenkos Vaterland-Partei hat er eine spätere Zusammenarbeit angekündigt, sie im Wahlkampf aber auf Distanz gehalten. Der Profiboxer hat stattdessen an seinem Image gearbeitet: Klitschko, der ehrliche Spitzensportler, der seinen Reichtum mit den Fäusten erkämpft hat, nicht mit krummen Geschäften. Klitschko, der Europa nicht nur als Tourist kennt, sondern dort gelebt hat. Klitschko, der seine Träume verwirklicht hat und den Ukrainern beim Verwirklichen ihrer Träume helfen wird.


Der Traum von Europa. Klitschkos Eskorte rast durch die nebelgraue Ebene, mehrere Kundgebungen in Provinzstädten stehen heute noch auf dem Programm. Ein roter Kleinwagen der lokalen Udar-Abordnung, ein schwarzer Transporter mit Klitschko, ein grauer mit den Fotografen, zum Abschluss wieder ein Pkw. Mit 120 Stundenkilometern braust er über die bucklige Landstraße, vorbei an Feldern und geduckten Holzhäusern.

Der Hauptplatz von Wolodymyr Wolynskyj ist gefüllt mit hunderten Schaulustigen, reihum wehen die roten Fahnen von Udar im Wind. Der Transporter bahnt sich den Weg durch die Menge, Klitschko erklimmt die Bühne, schnappt sich das Mikrofon. Jubel. Sprechchöre. „Vitali, Vitali, Vitali“.

Erst kommt die gute Nachricht: „Ihr seid Europäer, unsere Geschichte, Kultur und Mentalität sind europäisch!“ Dann die schlechte: Die Ukraine sei heute von europäischen Standards meilenweit entfernt. Und dann sagt Klitschko das, was er in jeder seiner Reden noch zweimal wiederholen wird: „Wenn die Polen, Tschechen und Ungarn in Europa angekommen sind, dann können wir das auch.“ Sogar die Georgier hätten es geschafft, sich in ein paar Jahren von der Korruption zu befreien. Die Georgier! Klitschko streut Hoffnung unters Volk. Ihm glaubt man gern, er wird wissen, wie es geht.

Nach seinen Reden beantwortet Klitschko die Fragen des Publikums, er fixiert den Fragesteller wie seinen Gegner im Ring, spricht ernst und gewissenhaft. Klitschko hat gelernt, dass man sich um seine Wähler kümmern, ihnen zuhören muss. „Schreiben Sie mir Ihre Adresse auf“, sagt er zu einer verzweifelten Pensionistin. Vor allem die Alten melden sich zu Wort, sie klagen „Pan Vitali“, „Herrn Vitali“, wie sie ihn höflich und distanzlos zugleich ansprechen, ihr Leid. Das Geld reicht nicht zum Leben, die Pension nicht zum Überleben, Korruption ist überall. Klitschko verspricht gerechte Pensionen, gerechte Löhne, gerechte Stipendien. Zahlen nennt er keine. Dann wird er aus der Menge geschleust.


Die Bühne ist sein Ring. 18.35 Uhr, Lutsk, der letzte Programmpunkt an diesem Tag. Eine große Bühne, Leinwände, eine Rockband heizt ein. Hier fühlt sich Klitschko richtig wohl. Er trägt ein Headset auf dem Kopf, kein lästiges Mikro behindert die Armarbeit. Er muss nicht mehr den Kopf einziehen, er kann groß sein, muss groß sein. Die Bühne ist jetzt sein Ring, seine Arena. Klitschko erzählt noch einmal die Geschichte von den Polen, Tschechen und Ungarn, und wie die Ukrainer es ihnen gleichtun können. „Von den alten Politikern haben wir schon genug. Er ist neu“, sagt einer im Publikum. Das ist Klitschkos Hypothek, die ihm auch zum Verhängnis werden könnte.

Zum Schluss teilt er seine Autogrammkarten aus, er hält sie in der Linken schützend vor dem Körper. Seine Rechte gehört dem Publikum, Händedruck, Autogramme, Händedruck. Es dauert 20 Minuten, bis er sich von der linken Bühnenhälfte bis zur rechten vorgearbeitet hat. Klitschko lächelt, ist höflich, freundlich, geduldig, bis zum letzten Fan. Erst wenn aus Autogrammjägern Wähler geworden sind, hat er diesen Kampf gewonnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2012)

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