"Macht China so weiter, kommt es zur Krise"

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Der Ökonom, Blogger und China-Experte Michael Pettis glaubt, dass die neue KP-Führung eine Neuausrichtung des Wirtschaftsmodells anvisieren muss.

Die Presse: So gut wie alle Experten sind der Ansicht, dass China seine Volkswirtschaft neu austarieren muss, um nicht in eine Krise zu schlittern. Hat sich diese Erkenntnis auch in der Führungselite durchgesetzt?

Michael Pettis: Ja, in den Beraterkreisen der Staatsführung ist man sich der Tatsache bewusst, dass die Zeit für eine ökonomische Neugewichtung weg vom staatlichen Sektor und hin zu den privaten Haushalten drängt. Allerdings ist eine derartige Verschiebung des Volksvermögens vom Staat zu den Verbrauchern politisch heikel.

In wenigen Tagen werden wir offiziell erfahren, wer bis 2022 die Geschicke Chinas lenken wird. Wie passt die Wachablöse an der Spitze von Staat und Partei in diese Debatte?

Üblicherweise passiert im Vorfeld eines Machtwechsels wenig, insofern ist es schwierig einzuschätzen, welche Richtung die Nachfolger von Hu Jintao und Wen Jiabao einschlagen werden. Die wenigen Indizien stimmen mich vorsichtig optimistisch, dass die neue Generation das Problem erkannt hat. Die Neugewichtung wird heuer oder 2013 beginnen.

Und wie können wir uns diese Neugewichtung vorstellen?

Es geht auf jeden Fall nicht darum, ob China weich oder hart landen wird. Derartige Debatten kann man über die Wirtschaft der USA führen, aber nicht über die Volksrepublik. Solange die chinesische Regierung Schulden macht und sie dieses Geld investiert, kann sie die Geschwindigkeit des Wachstums steuern. Das Problem ist nur, dass ein Teil dieses Geldes verschwendet wird. Der Schuldenstand wächst also schneller als die Kapazität der Volkswirtschaft, diese Schulden zu bedienen. Sollte es so weitergehen, kommt es irgendwann zu einer Krise.

Wird dieser Trend anhalten?

Ich glaube, dass die chinesische Führung die Dynamik verändern will. Sobald sie Ernst macht, wird sich das chinesische Wirtschaftswachstum deutlich einbremsen. Noch vor wenigen Jahren lautete der Konsens, Chinas BIP werde pro Jahr um acht bis zehn Prozent zulegen. Jetzt geht das Gros der Experten von fünf bis sieben Prozent Wachstum aus. Ich gehe von einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von drei bis 3,5 Prozent in den kommenden zehn Jahren aus.

Geht von den Schulden die größte Gefahr für die chinesische Wirtschaft aus?

Historisch betrachtet waren Schulden das größte Problem für alle auf Investitionen basierenden Wachstumswunder der vergangenen Jahrzehnte: Deutschland in den 1930er-Jahren, Brasilien in den 1960ern und 1970ern, Japan in den 1980ern – diese einstigen Erfolgsgeschichten mündeten entweder in einer akuten Schuldenkrise oder in einer langen Periode unterdurchschnittlichen Wachstums. Was Deutschland anbelangt: Viele Wirtschaftshistoriker sind der Ansicht, dass das Dritte Reich spätestens 1941 in den Bankrott geschlittert wäre, hätte es nicht 1939 den Zweiten Weltkrieg begonnen.

Der Anteil der chinesischen Verbraucher an der Wirtschaftsleistung ist im internationalen Vergleich auffallend niedrig. Liegt es daran, dass das soziale Netz löchrig ist und dass die Konsumenten selbst vorsorgen müssen?

Nein. Der Privatverbrauch ist nicht deswegen so niedrig, weil die Chinesen so viel sparen. Chinas private Sparquote liegt in etwa auf dem Niveau anderer asiatischer Nationen. Das Problem ist, dass das Einkommen chinesischer Haushalte zu niedrig ist. Es sind nicht die Verbraucher, die zu viel sparen, sondern das Land. China hat eine so hohe Sparquote, weil der Privatverbrauch so niedrig ist. Das kommt davon, dass die Einkommen niedrig sind. Einer der Hauptgründe für diese niedrigen Einkommen ist die seit Jahren anhaltende finanzielle Repression...

...also die künstlich niedrig gehaltenen Sparzinsen, die für billiges Investitionskapital sorgen.

Diese niedrigen Zinsen transferieren Vermögen von den Sparern zu den Kreditnehmern. Niedrige Gehälter wiederum subventionieren Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer. Eine unterbewertete Währung subventioniert Exporteure auf Kosten der Verbraucher. All diese Maßnahmen stützen das chinesische Wachstum – auf Kosten der chinesischen Haushalte.

Die Grundprinzipien des chinesischen Wunders sind also das Problem?

Wer die eingangs angesprochene Neuausrichtung der chinesischen Wirtschaft angehen will, muss dafür sorgen, dass Einkommen und Zinsen steigen und dass der Yuan aufwertet. Es gibt aber ein Dilemma: Passiert das zu schnell, gehen alle bankrott. Passiert das zu langsam, dauert der Prozess zehn bis 15 Jahre. China hat für diese Neuausrichtung keine zehn Jahre Zeit – höchstens drei bis vier Jahre.

Und wo ist dann der Ausweg?

Man könnte beispielsweise staatliches Vermögen direkt an die Haushalte transferieren (etwa über Privatisierungen und die Ausgabe von „Volksaktien“, Anm. d. Red.), um Konsumenten Geld in die Hand zu geben. Doch das würde gegen die Interessen von Teilen des Establishments laufen. Genau das ist der Haken: Für jedes Problem in China kann ich Ihnen eine Lösung nennen. Diese Lösung wird aber automatisch neue Probleme verursachen.

Würden Sie sich als Pessimist bezeichnen, was China anbelangt?

Nein, eher als Skeptiker. Der Schlüssel liegt in der Neugewichtung der Wirtschaft. Sollte sich das BIP-Wachstum auf drei Prozent verlangsamen und das Wachstum der Privatvermögen auf fünf, sechs Prozent beschleunigen, wäre es eine gute Entwicklung.

Skeptisch sind allerdings auch viele Unternehmer, falls die jüngsten Meldungen über zunehmende Kapitalflucht zutreffen. Immer mehr Chinesen schaffen demnach ihr Geld ins Ausland und bemühen sich um eine Aufenthaltserlaubnis in den USA...

...in den USA, aber auch in Kanada, in Australien, in Singapur – sogar auf der Karibikinsel Saint Kitts! Das ist keine Überraschung, sondern eine Konsequenz der von mir angesprochenen Entwicklung – je höher der Schuldenstand, desto nervöser die ökonomischen Akteure.

Für China ist das kein Vertrauensbeweis.

Da haben Sie recht. Generell gilt in Entwicklungsländern das Verhalten der lokalen Geschäftsleute als guter Vertrauensindikator. Ich glaube zwar nicht, dass die Kapitalflucht in China ein alarmierendes Ausmaß erreicht hat, aber wir täten gut daran, diese Entwicklung im Auge zu behalten.

Zur Person

Der Ökonom, Blogger und Autor Michael Pettis unterrichtet an der Guanghua School of Management in Peking. Seine Website „China Financial Markets“ (www.mpettis.com) ist eine der ersten Anlaufstellen für China-Interessierte. Sein Buch „The Great Rebalancing“ soll 2013 erscheinen. Pettis gilt als Förderer der Pekinger Independent-Musikszene und betreibt ein Plattenlabel. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2012)

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