Die Einzelkinder trauen der Partei nicht mehr

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Der erwachsen gewordenen ersten Generation der Ein-Kind-Politik geht es weitaus besser als ihren Eltern und Großeltern. Doch ihre Unzufriedenheit mit dem autoritären Regime ist groß: Sie wollen mitbestimmen.

Peking. Yu Jie könnte zufrieden sein mit ihrem Leben in Peking. Sie hat studiert, zwei Semester unter anderem in London. Die 25-Jährige arbeitet inzwischen in der Kommunikationsabteilung einer bekannten Modefirma. Und auch ihr Verdienst kann sich sehen lassen: Rund 8000 Yuan bringt sie jeden Monat nach Hause. Das entspricht fast 1000 Euro. Damit kann sie sich in zentraler Lage eine Zweizimmerwohnung leisten und regelmäßig neue Kleidung und andere Konsumartikel. Dennoch möchte Yu Jie China möglichst bald verlassen.

„Die Luft ist schlecht“, beklagt sie. Den heimischen Lebensmitteln könne man angesichts der vielen Skandale nicht trauen. Der Verkehr sei unerträglich, die Sitten verrohten: Erst neulich sei sie von einem BMW angefahren worden, in dem ein 20-Jähriger am Steuer saß, erzählt sie empört. „Er hat sich nicht einmal entschuldigt.“ Die Regierung werde zudem immer korrupter. „In einem solchen Land will ich nicht meine Kinder aufziehen“, sagt Yu Jie. „Je früher weg, desto besser.“

Sie ist bei Weitem nicht die Einzige, die sich über die Zustände in der Volksrepublik beklagt. Vor allem auf dem twitterähnlichen Kurznachrichtendienst Sina-Weibo im chinesischen Internet macht sich der Unmut besonders breit. Über die ausufernde Korruption und die Selbstbereicherung der Beamten und Parteifunktionäre beschwert man sich, über die Behördenwillkür. Mehrfach täglich werden grausame Bilder von Zwangsräumungen ins Netz gestellt, unter denen dann Zehntausende ihre wütenden Kommentare setzen. „Wir leben in einer Bananenrepublik“, beschwert sich ein Weibo-Nutzer mit dem Namen Wildwong.

Die Angst vor der Zukunft

Auf den ersten Blick überrascht dieser Unmut. Warum beklagen sich vor allem die jungen Leute in den Großstädten, obwohl es ihnen zumindest materiell doch sehr viel besser geht als früher? Noch vor 20 Jahren hatten viele von ihnen nicht einmal ausreichend Essen auf dem Tisch, vor 10 Jahren ging für einen Besuch bei McDonald's ein ganzer Wochenlohn drauf. Nun verfügen die meisten über eine Eigentumswohnung, über ein Auto, sie können ins Ausland reisen, sind gut gebildet. Und sie können sich Konsumgüter leisten und einen Lebensstil, der sich von dem der Menschen in New York, London oder Zürich kaum unterscheidet.

„Natürlich war früher nicht alles besser“, sagt Xu Tian. Der 31-Jährige ist Redakteur einer chinesischen Staatszeitung. Aber vor zehn Jahren hatten er und die meisten seiner Freunde noch gedacht, es gehe für alle schon irgendwie aufwärts. Diesen Optimismus teilen sie nicht mehr. Jeden Morgen erhält seine Redaktion eine Mail vom chinesischen Propagandaministerium mit einer Liste von Themen, über die sie schreiben dürfen und solchen, zu denen sie zu schweigen haben.

Xu Tian erinnert sich an den schweren Unfall eines Hochgeschwindigkeitszuges vor einem Jahr in der ostchinesischen Stadt Wenzhou. Nur wenige Sekunden, nach dem die Züge aufeinandergeprallt waren, gab es über Weibo bereits die ersten Bilder und Meldungen. Er selbst fuhr hin und berichtete für seine Zeitung vor Ort. Knapp eine Woche durften sie über korrupte Rettungskräfte, pfuschende Bauunternehmen und Missstände im Eisenbahnministerium berichten. Doch dann schlug das Propagandaministerium wieder zu. Er wurde zurückbeordert, sämtliche Einträge rund um das Zugunglück auf Weibo wurden gelöscht.

„Erstmals gab es die Hoffnung auf freie Berichterstattung in China“, erinnert sich Xu. „Plötzlich war aber dann wieder alles beim Alten.“ Ihm macht die Arbeit seitdem keinen Spaß mehr. Dutzende seiner Kollegen haben ihren Job inzwischen geschmissen.

So wie Xu Tian und Yi Jie ist in Chinas boomenden Großstädten eine Generation herangewachsen, die anders als ihre Eltern keine Armut mehr erlitten hat. Sie gehören der sogenannten Einzelkindgeneration an. Seit 1981 dürfen Chinesen in den Städten nur noch ein Kind pro Ehepaar zeugen. Materiell geht es diesen Kindern besser als jemals in China zuvor.

Ihre Angst vor der Zukunft ist aber dennoch groß. Sicherlich hat diese Unsicherheit auch damit zu tun, dass sich mit gewachsenem Wohlstand auch die immateriellen Ansprüche verändert haben. Die jungen Leute wollen nicht mehr nur als Arbeitskräfte und Konsumenten wahrgenommen werden. Sie wollen selbst mitbestimmen. Zugleich gibt es aber auch ganz reale Gründe für diese Angst.

Keine Krankenversicherung

Wer heute etwa in Peking, Schanghai oder Guangzhou in einer Mietwohnung lebt, muss ständig mit unverhältnismäßig drastischen Mieterhöhungen rechnen. Denn einen Mieterschutz gibt es nicht. Auch deswegen ist der Drang nach einer Eigentumswohnung groß. Eine staatliche Krankenversorgung ist jetzt erst wieder im Aufbau, obwohl es sie zumindest für die städtische Bevölkerung bis in die späten 1980er-Jahre bereits gab. Auch deswegen ist die Sparquote vieler Chinesen hoch. Sie sorgen sich, im Krankheitsfall die Behandlungen nicht bezahlen zu können.

Und auch kleine Kinder und junge Eltern sind einem enormen Leistungsdruck ausgesetzt. Wer nicht auf eine gute Schule kommt, bei der zentralen Eingangsprüfung für die Universitäten nur schlecht abschneidet und nach dem Studium nicht gleich einen gut dotierten Job erhält, droht auf der Strecke zu bleiben. Viele plagt die Angst, den einmal erworbenen Wohlstand wieder zu verlieren. „Was diese junge Mittelklasse vor allem auszeichnet“, analysiert der Pekinger Soziologe Xuan Wujie: „Sie traut dem Staat nicht mehr.“

Frustaustausch im Internet

Für chinesische Verhältnisse verdient Yu Jie zwar gut. Für die erträumte Auswanderung nach Kanada reichen ihre Ersparnisse aber nicht. Über 100.000 kanadische Dollar muss sie verfügen, um China verlassen und nach Kanada emigrieren zu können – und dieses Geld werde sie auch künftig nicht so schnell auftreiben können, meint Yu. Und fügt hinzu: „Damit bleiben mir nur meine Klagen im Internet. Aber die lasse ich mir nicht nehmen.“

Auf einen Blick

Die Ein-Kind-Politik wurde 1980 zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums eingeführt. Paare in Städten dürfen nur ein Kind haben, auf dem Land ist aber ein zweites erlaubt, wenn das erste ein Mädchen ist. Ausgenommen von der Regel sind Minderheitenfamilien. Auch Partner, die beide Einzelkinder sind, dürfen zwei Kinder haben. Ein regierungsnahes Forschungsinstitut hat nun eine schrittweise Abschaffung der unpopulären Regelung bis 2015 gefordert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2012)

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