Warum explodierte 2002 das Kabinett Schüssel I?

Wolfgang Schüssel mit Thomas Klestil
Wolfgang Schüssel mit Thomas Klestil(c) AP (MARTIN GNEDT)
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Eine Antwort auf die „Welt bis gestern“ vom 3. November 2012.

Die Regierung Schüssel I ist nicht infolge von „Haiders destruktiven Quertreibereien“ gescheitert, sondern an der Tatsache, dass FPÖ-Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer in der Frage des EU-Beitritts der Tschechischen Republik die freiheitliche Parteibasis, konkret die Parteitagsdelegierten, schamlos belogen hat und entgegen dem Willen der Parteibasis einer Aufnahme der Tschechischen Republik in die EU trotz Fortbestandes der Beneš-Dekrete zustimmen wollte.

Beim FPÖ-Bundesparteitag im April 2002 hatte sie noch ganz klar erklärt, dass für die FPÖ eine Zustimmung zu einem tschechischen EU-Beitritt nicht infrage komme, solange die Tschechische Republik an den Beneš-Dekreten und dem Straffreiheitsgesetz für die an den Sudetendeutschen verübten Verbrechen festhält.

Gleichzeitig hatte sie schon mit Bundeskanzler Schüssel vereinbart, dass die FPÖ sich mit einem formalen Protest begnügen und der EU-Erweiterung keinen echten Widerstand entgegensetzen würde. Als dies nach einigen Monaten bekannt wurde, fühlten sich sehr viele Delegierte von der Parteispitze belogen und verraten und es entstand an vielen Stellen der Wunsch nach einem Sonderparteitag zur Diskussion dieser Frage. Ich selbst habe in Gesprächen mit leitenden Funktionären, z. B. mit Dr. Stadler dafür geworben.

Primär aus diesem Grund hat dann mehr als die Hälfte der freiheitlichen Parteitagsdelegierten die Möglichkeit genutzt, die von Volksanwalt Stadler initiierte Unterschriftensammlung für einen Sonderparteitag sofort zu unterstützen. Der vordergründige Anlass, die Verschiebung der Steuerreform, spielte bei den meisten Delegierten nur eine untergeordnete Rolle.

Die daraufhin folgende Rücktrittsdrohung von Riess-Passer und anderen FP- Regierungsmitgliedern veranlasste dann Jörg Haider, zu dem Delegiertentreffen nach Knittelfeld einzuladen, um einen Kompromiss zwischen den Delegierten und den freiheitlichen Regierungsmitgliedern zustande zu bringen. Dieser gelang nicht, worauf am nächsten Tag Vizekanzlerin Riess-Passer und Finanzminister Grasser mediengerecht inszeniert ihren Rücktritt bekannt gaben.

Schüssel brach den Koalitionspakt

Dies nutzte Bundeskanzler Schüssel, um Neuwahlen zu verlangen und die Verantwortung dafür der FPÖ zuzuschieben, indem er behauptete, durch die Rücktritte von Riess-Passer und Grasser hätten die Delegierten in Knittelfeld die Fortführung der Regierung unmöglich gemacht. Tatsächlich waren die Neuwahlen allein das Werk Schüssels, der diese unter eindeutigem Bruch des mit Haider paktierten Koalitionsabkommens herbeigeführt hat.

In diesem Abkommen war klar festgehalten, dass jeder Partner das Recht hat, seine Regierungsmitglieder zu bestimmen und auch auszuwechseln, dass vorzeitige Neuwahlen nur einvernehmlich stattfinden können und dass bei strittigen Fragen der Koalitionsausschuss einzuberufen sei.

Bundeskanzler Schüssel hat sich an keine dieser Vereinbarungen gehalten. Er hat, ohne abzuwarten, wen die FPÖ als Vizekanzler und Finanzminister nachnominiert, und ohne den Koalitionsausschuss einzuberufen, einseitig Neuwahlen herbeigeführt und die Verantwortung dafür der FPÖ zugeschoben, da angeblich die „Knittelfelder“ eine Fortführung der Regierung unmöglich gemacht hätten.

Man kann es vielleicht als das Werk einer ausgleichenden Gerechtigkeit sehen, dass das erfolgreiche Auftreten Haiders im Wahlkampf 2008 zum wahrscheinlich endgültigen Ende der politischen Laufbahn von Schüssel geführt hat.

Em. Univ.-Prof. Dr. Herbert Vonach,
Klosterneuburg

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2012)

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