Was die Österreicher und die Deutschen trennt

"Was die Österreicher und die Deutschen trennt, ist ihre gemeinsame Sprache." Warum Karl Kraus diesen Satz niemals gesagt hätte.

Was ist das berühmteste Zitat von Karl Kraus? Einmal abgesehen von: „Was die Deutschen und die Österreicher trennt, ist ihre gemeinsame Sprache.“ Die Verlegenheit, die bei dieser Frage zumeist entsteht, ist bezeichnend für das traurige Nachleben, das der Herausgeber der „Fackel“ in Österreich genießt. Kraus lebt im kollektiven Gedächtnis fort mit einem einzigen, tausendfach bemühten Spruch, der, ganz nebenbei, definitiv nicht von ihm stammt. Es ist ein Bonmot, das erst nach 1945 gleichsam aus dem Nichts aufgetaucht ist, als wäre es immer schon da gewesen.

Im Englischen gibt es ein ähnliches Zitat über das Verhältnis von Briten und Amerikanern, es wird wahlweise Bernhard Shaw oder Oscar Wilde zugeschrieben. Wahrscheinlich wurde es hierzulande in den Fünfzigerjahren einfach adaptiert, es passte so schön zu dem plötzlichen Abgrenzungsbedürfnis, dessen Motive ebenso wenig hinterfragt wurden wie die Herkunft des Zitats.

Dass es ausgerechnet Karl Kraus zugeschrieben wird, ist eine geradezu perfide Pointe seiner Nachwirkung. Denn ich kenne kaum einen österreichischen Schriftsteller von Rang, zu dem der Satz weniger passen würde.


1923 drohte Kraus seinem Freund und Berater Leopold Liegler mit Aufkündigung der Freundschaft, ja mit einem polemischen Feldzug in der „Fackel“, wenn dieser sein soeben erschienenes Buch nicht zurückzöge. Was hatte der Mann verbrochen? Liegler hatte eine Nestroy-Bearbeitung mit Dialekt-Transkriptionen herausgegeben, um Schauspielern eine Vorstellung davon zu vermitteln, was er für den „echten“ Wiener Klang hielt. Als der glühende Nestroy-Verehrer Kraus das Buch erhielt, war er außer sich. Er drohte mit Aufkauf und Vernichtung der gesamten Auflage, wenn Liegler sein „Verbrechen an Nestroy“ nicht rückgängig mache. Nestroy sei kein „Wiener Dialektschriftsteller“, sondern ein „deutscher Satiriker“.

Nestroy ein deutscher Dichter? Ein Alptraum für die österreichische Seele. War Kraus etwa ein Deutschnationaler? Mitnichten. Er hatte, anders als die meisten seiner Landsleute, schon 1918 gegen einen „Anschluss“ gekämpft. In der Politik war ihm alles Großdeutsche zuwider, im Reich der Worte indes wollte er seinen Leitsternen keine Grenzen gezogen sehen: Nestroy ins Wienerische zu übersetzen hieße, ihm eine „Anzengrube graben“.

Kraus hatte ein geradezu religiöses Verhältnis zur deutschen Sprache. In ihr glaubte er die Heimat gefunden zu haben, die ihm, einem Juden böhmischer Herkunft, so oft verwehrt wurde. Dass ausgerechnet er als Kronzeuge für das Trennende der deutschen Sprache herhalten muss, ist eine zutiefst österreichische Pointe. Nicht zuletzt deshalb, weil diese kleine Bosheit kaum jemandem bewusst ist.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2012)

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