Der kranke Schüler und seine Leiden

kranke Schueler seine Leiden
kranke Schueler seine Leiden(c) Clemens Fabry
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Sprachstörungen, ADHS, Legasthenie oder Burn-out: Die Liste der "Auffälligkeiten", die sich bei Schülern bemerkbar machen, ist lang. Aber sind die Kinder heute wirklich kränker als früher?

Glaubt man Statistiken, ist es schlecht um unseren Nachwuchs bestellt. Jedes dritte Kind hat eine Sprachentwicklungsstörung, in jedem Klassenzimmer gibt es Schüler, die legasthene Symptome aufweisen, ADHS ist die am häufigsten diagnostizierte Verhaltensauffälligkeit bei Kindern – und fünf Prozent der Schüler sind gar burn-out-gefährdet. Kein Wunder, dass Österreich bei bildungspolitischen Studien schlecht abschneidet, möchte man da denken. Doch handelt es sich in vielen Fällen um einen falschen Befund: Individuelle Entwicklungen werden pathologisiert, weil sie nicht der Norm oder den Wünschen der Eltern entsprechen. Gesteigerte Aufmerksamkeit und neue Testinstrumente tun das Ihre dazu, Krankheiten als Massenphänomen erscheinen zu lassen.

1. Jedes dritte Kind hat Sprachprobleme oder Sprachstörungen

Bereits jedes dritte Kind im Vorschulalter hat eine gestörte Sprachentwicklung, lautete im Jänner das Fazit einer deutschen Studie. Demnach erhalten mittlerweile zwanzig Prozent aller fünfjährigen Buben eine Verordnung für eine Logopädie-Behandlung. Nicht immer zu Recht: Freilich müsse man die Bedenken der Eltern ernst nehmen, sagt Cordula Winterholler, Leiterin des Studiengangs Logopädie an der FH Wiener Neustadt. „Man muss den Kindern aber auch Zeit geben, sich individuell zu entwickeln.“

Ein vierjähriges Kind, sagt Winterholler, muss etwa noch kein sauberes S sprechen können. Logopäden erwarten das erst im Übergang zum Schulalter. Das Thema Lispeln zählt sie zu den häufigsten Problemen, mit denen Logopäden konfrontiert würden. Dabei seien ein guter Wortschatz oder die Frage, ob ein Kind damit ein Sprachsystem aufbauen könne, wichtiger. Dass immer mehr Kinder Probleme bei der Sprachentwicklung haben, bezeichnet sie als sehr strittig: „Wir sind viel aufmerksamer und haben mehrTestinstrumente, die immer differenzierter messen. Deshalb bin ich vorsichtig, ob das wirklich ein vermehrtes Outcome ist.“

2. Große Aufmerksamkeit für ADHS und Konzentrationsstörungen

Kaum eine „Störung“ hat in den vergangenen Jahren so große Aufmerksamkeit erregt wie ADHS – sie ist die am häufigsten diagnostizierte Verhaltensauffälligkeit im Kindes- und Jugendalter. Auch Lehrer sind mittlerweile stärker darauf geschult, auf Anzeichen für ADHS – also eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – zu achten. „Da fallen dann einzelne Symptome schneller auf, man bewertet ein Kind sofort unter diesem Aspekt. Die Sache ist ein bisschen ein Selbstläufer geworden“, sagt die Familientherapeutin und Buchautorin Felicitas Römer. Wenn ein Kind mehr zappelt als andere, sei man mit der Diagnose ADHS schnell bei der Hand. Oft zu schnell, so Römer.

Für die Eltern habe die Diagnose zwar oft eine erleichternde Wirkung. Zum einen könnte man sicher sein, „nicht selbst Schuld zu tragen“. Zum anderen gebe es klare Lösungen. Dennoch, so Römer, solle man sich zuerst einmal die Frage stellen, ob es familiäre oder schulische Gründe für eine Konzentrationsschwäche gibt. Familienberatung sei in jedem Fall sinnvoll, denn wenn auch die Eltern nicht die Schuldigen sind – sie sind diejenigen, die das Umfeld des Kindes umgestalten können.

3. Legasthenie, Dyskalkulie – Symptome in jeder Schulklasse

Fälle von schwerer Legasthenie gibt es nur wenige. Dennoch seien in jeder Klasse legasthene Symptome anzutreffen, sagt Doris Pühringer, Leiterin des Instituts APÄDO, das sich mit ganzheitlicher Diagnostik – darunter Legasthenie und Dyskalkulie – beschäftigt.

Klassisch für betroffene Schüler sei, dass sie insbesondere bei zunehmendem Druck mehr Fehler machen als andere Kinder. „Da finden sich in den letzten Zeilen einer Schularbeit plötzlich zwanzig Fehler“, erklärt Pühringer. Etwa verwechselte und ausgelassene Buchstaben oder Zahlen – „Dinge, die in der Ruhe beherrscht werden, funktionieren auf einmal nicht mehr“. Lehnschwierigkeiten, sagt Pühringer, seien „in den vergangenen Jahren nicht weniger geworden“. Im Schulsystem könne sie nur wenig positive Veränderungen erkennen. „Man braucht sich nicht zu wundern, dass Konzentrationsschwierigkeiten zunehmen, wenn Kinder viel zu wenig Bewegung oder Auszeiten haben.“

Wenngleich die Legasthenie keineswegs in die Liste sogenannter „Modekrankheiten“ gehört und eine genetische Komponente hat, verschärfen auch hier Druck und Stress das Problem – oder lassen es überhaupt erst auftreten. Zentral sei es, sich bei der Behandlung den Ursachen zuzuwenden, so Pühringer. Und dann eine individuell angepasste Lerntherapie zu starten.

4. Burn-out als Folge von Leistungsdruck und Freizeitstress

Jeder dritte Schüler zwischen zehn und 16 Jahren leidet unter ungesundem Stress, fünf Prozent aller Schüler sind gar burn-out-gefährdet, erklärt Brigitte Bösenkopf von der Arbeitsgemeinschaft für Präventivpsychologie. Dazu würden nicht zuletzt die Eltern beitragen, denn: „Gestresste Eltern produzieren gestresste Kinder“, so Bösenkopf. Gekoppelt mit gesteigertem und frühem Leistungsdruck und zu wenig Ausgleich mache das den Schülern zu schaffen. Auch ständige mobile Kommunikation trage ein Stück weit dazu bei.

Dass Burn-out immer wieder leicht abschätzig als „Modediagnose“ belächelt wird, sieht Bösenkopf gelassen. „Durch die Klassifizierung als Krankheit eröffnen sich Hilfsmöglichkeiten.“ Die Sensibilität für Warnzeichen – Erschöpfung, Gereiztheit, Nervosität, das gehäufte Auftreten von Fehlern – würde erhöht. Das sei auch zentral, wenn es darum geht, wie Eltern und Lehrer dem Phänomen entgegenwirken können. Wichtig sei zudem, die Kinder nicht noch stärker unter Druck zu setzen. „Dadurch steigt die Angst, das führt wiederum zu einer Häufung von Fehlern“, so Bösenkopf. Zudem müsse der „Freizeitstress“ reduziert werden. „Freie Zeit heißt ja: eine Zeit ohne Verpflichtungen.“

5. Oder ist das störende Kind vielleicht doch hochbegabt?

Nicht zuletzt fragen sich viele Eltern „auffälliger“ Kinder, ob nicht eine Hochbegabung der Grund für das abweichende Verhalten ihrer Sprößlinge sein könnte. Und sie handeln auch: Die Zahl der diesbezüglichen Testanfragen sei in den vergangenen Jahren stark gestiegen, sagt Christiane Wendelberger vom Wiener Stadtschulrat.

Die Motive zur Testung seien zwar stark unterschiedlich, bei einigen Eltern stecke aber durchaus auch die Hoffnung dahinter, dass „nichts anderes“ der Grund für abweichendes Verhalten sei. Nicht alle seien enttäuscht, wenn das Ergebnis negativ ist. Zu Recht: Denn auch „eine Hochbegabung bringt nicht nur Freude“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2012)

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