Psychologie: Ist das Böse wirklich nur und ganz banal?

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Figuren wie Eichmann und Psychologen-Experimente öffneten die verstörende Perspektive, jeder von uns könne erst zum Befehlsempfänger und dann zum Totschläger werden. An dieser Sichtweise häufen sich nun Zweifel.

Seit Adolf Eichmann, der dafür sorgte, dass die Züge in die Vernichtungslager pünktlich fuhren, 1961 in Jerusalem vor Gericht stand – er wurde zum Tod verurteilt –, war die Welt um einen Schrecken reicher: Der Mitorganisator des Massenmords präsentierte sich als biederer Bürokrat, dem die Prozessbeobachterin Hannah Arendt „beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen“ konnte: Der „industrielle Massenmord“ sei nicht von blutrünstigen Bestien ausgeführt worden, sondern von mediokren Befehlsempfängern, die die „Banalität des Bösen“ verkörpern.

Das blieb nicht unbestritten, und es verstörte, denn damit geriet jeder in Verdacht, er könne jemandem, den er überhaupt nicht kennt, Bösestes antun, wenn nur irgendeine Autorität das befiehlt. Exakt das bestätigten später US-Psychologen: In den 60er-Jahren bat Stanley Milgram Testpersonen ins Labor, vorgeblich zu einem Experiment, in dem die Lernfähigkeit getestet werden sollte bzw. ihre Verbesserung durch Strafen: Elektroschocks. Die sollten die Probanden, die per Los „Lehrer“ geworden waren, den anderen (den „Schülern“) per Knopfdruck verabreichen, immer stärkere, bis hin zu tödlichen.

Milgram-Experiment: Aus Gehorsam quälen

Die „Lehrer“ sahen die „Schüler“ nicht, aber sie hörten sie, schreien, immer lauter, am Ende blieben sie stumm. (In Wahrheit kamen die Schreie vom Band.) Zudem hörten sie die Stimme einer Autorität, die der Wissenschaft. Die kam vom Experimentleiter, er wies Zaudernde an: „Machen Sie weiter“ oder, dringlicher: „Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen.“ Viele machten weiter, zwei Drittel gingen bis zur tödlichen Dosis, 450 Volt. Ebenso gespenstisch ging es Jahre später in Philip Zimbardos „Stanford Prison Experiment“ zu, in dem ein Gefängnis simuliert wurde. Wieder losten die Testpersonen, manche wurden „Gefangene“, andere „Wärter“. Auch diese völlig harmlosen Studenten wurden binnen Kurzem – unter Führung des (immer mehr vom eigenen Experiment besessenen) Zimbardo – zu Sadisten, die die Gefangenen quälten, sie aneinanderketteten und ihnen Säcke über den Kopf stülpten, die Bilder erinnerten fatal an die aus Abu Ghraib. Erst seine Freundin brachte Zimbardo zur Vernunft, er brach das Experiment ab.

Steckt also ein Totschläger in jedem von uns, sind wir alle anfällig für das Übel der Welt, die Unterwerfung unter Autoritäten? Die Psychologen Alexander Haslam (University of Queensland) und Stephen Reicher (University of St. Andrews) bezweifeln es, sie schlagen eine Neuinterpretation der alten Experimente vor und zitieren einen Kenner von Befehl und Gehorsam: „Wenn Männer in sklavenhaftem Gehorsam Krieg führen, werden sie ihn verlieren“ (PLoS Biology, 20. 11.).

Das stammt vom US-Bürgerkriegsgeneral Grant: Auch Soldaten brauchen Kreativität, und sie müssen sich vor allem mit dem identifizieren, wofür sie kämpfen. Dieses Motiv sehen Haslam/Reicher auch in vielen der überlieferten Nachgespräche Milgrams, in dem manche „Lehrer“ den Psychologen zu weiteren Experimenten aufriefen: „Machen Sie weiter, solange etwas Gutes dabei herauskommen kann. In unserer verrückten Welt braucht es alles, was gut sein kann.“

Ähnliches sehen Haslam/Reicher in Zimbardos Experiment: „Anständige Menschen beteiligen sich nicht passiv an fürchterlichen Handlungen, sondern eher, weil sie – unter Einfluss einer Autorität – glauben, dass sie etwas Richtiges tun.“ Dieses Urteil stützt sich u. a. auf eine Wiederholung des Prison Experiments, die die beiden 2002 für die BBC durchgeführt haben (es gab nur diese eine Wiederholung, und Wiederholungen Milgrams gingen später bei Ethikkommissionen nur stark gemildert durch, kamen aber immer zum gleichen Befund).

Anderer Eichmann in als vor Jerusalem

Auch dieses Experiment zeigte weniger passiven Gehorsam als aktives Engagement bzw. die Macht der Gruppendynamik. Allerdings führte es am Ende zum gleichen Ergebnis wie das in Stanford, das mag die Differenz doch nicht so grundlegend erscheinen lassen wie Haslam/Reicher es wollen. Bei Eichmann selbst, der Ikone der Banalität des Bösen, liegen die Dinge klarer: Seit Jahren argumentiert die Philosophin Bettina Stangneth gegen die Sichtweise ihrer Kollegin Hannah Arendt, sie hat letzte Woche auch bei einer Simon Wiesenthal Lecture in Wien vorgetragen: Ging es Arendt um „Eichmann in Jerusalem“ (so der Titel ihre Buchs), hält Stangneth mit „Eichmann vor Jerusalem“ dagegen. Der schrieb etwa in seinem Versteck in Argentinien in den 50er-Jahren: „Ich war kein normaler Befehlsempfänger, dann wäre ich ein Trottel gewesen, ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist.“ Den Trottel gab er, für Stangneth ein geborener Schauspieler und Manipulator, dann erst in Jerusalem.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2012)

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