Ökonom: "Europa wird nie mehr Supermacht"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Der indisch-britische Ökonom Meghnad Desai sieht Indien auf einem guten Weg, China und Europa eher weniger. Ein wahres Wachstumswunder sagt er im Interview mit der "Presse" hingegen Myanmar voraus.

Die Presse: Investoren finden die BRIC, also Brasilien, Russland, Indien und China, schon langweilig. Sind die glorreichen Zeiten dort vorbei?

Meghnad Desai: Es stimmt, die BRIC-Staaten wachsen nicht mehr so stark wie früher. Indien wächst mit 5,5 Prozent pro Jahr, was für Europa super wäre, für Indien aber nicht reicht. Die Frage ist, ob das ein temporäres oder dauerhaftes Phänomen ist. Ich würde sagen: Indien wird wieder stärker wachsen, China eher nicht.

Warum nicht?

China ist sehr exportabhängig und leidet unter der Situation in Europa. Es muss seinen Binnenmarkt aktivieren, was nicht leicht wird. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Beide Länder werden weiter stark wachsen, sie werden nur nicht mehr die Länder mit den allerhöchsten Wachstumsraten sein.

Sondern?

Indonesien, Bangladesch, Vietnam und viele afrikanische Länder. Niemand ist beim Handybezahlen so weit fortgeschritten wie Kenia oder Nigeria. Oder Myanmar (Burma): Obama war gerade da, und nicht nur aus politischen Gründen. Die Amerikaner wollen dort Geschäfte machen. Das wird eine riesige Wachstumsgeschichte.

Woher wird das Wachstum kommen?

Früher waren wir der Meinung, dass ein Land groß sein muss, um zu wachsen, wegen des Binnenmarkts. Das ist heute nicht mehr der Fall. Man muss sich nur auf den Export konzentrieren, kleinen Ländern bleibt keine andere Wahl.

Und was wird Myanmar exportieren?

Rohstoffe. Myanmar hat wahnsinnig viel Reis, Holz und Bodenschätze. Das hatten sie schon immer: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es eine riesige indische Einwanderungswelle, weil Myanmar die „Reisschüssel“ der Region war. Außerdem liegt das Land günstig zwischen Indien und China.

Reden wir über Indien, Ihr Heimatland. Es scheint, als sei es alles andere als leicht, alle 1,2 Mrd. Einwohner unter einen Hut zu bringen.

Früher wurde eine große Bevölkerung immer als Problem angesehen, heute gilt es aber als Vorteil. China wird wegen seiner Ein-Kind-Politik schnell altern, in Indien gibt es dagegen viele junge Arbeitskräfte. Was noch fehlt, ist die Bildung. Aber es stimmt, Indien ist viel chaotischer als China.

Was meinen Sie mit „chaotisch“?

Indien ist eine Demokratie, China nicht. Im Parlament sitzen 45 Parteien. Es werden verschiedene Sprachen gesprochen und Religionen praktiziert. Trotz alledem geht es vorwärts.

Abgesehen von der Bildung, was sind die größten Herausforderungen?

Der Arbeitsmarkt ist sehr starr, der müsste dereguliert werden. Wie bei allem ist es aber nicht leicht, da einen Konsens zu erreichen. Ein großes Problem ist auch die Armut.

War China bei der Armutsbekämpfung erfolgreicher?

China hat vor allem früher damit angefangen. Und es hat die Alphabetisierung der Bevölkerung sehr ernst genommen. Chinesen sind sehr zielstrebig. Wenn der Premierminister im Radio sagt, morgen stehen wir alle 15 Minuten früher auf, dann wird das so gemacht. In Indien gäbe es gleich eine Diskussion: Warum nicht 20 Minuten? Oder zehn? Und ist das überhaupt mit meinem Glauben vereinbar? Inder streiten einfach gern.

Hat das nicht auch etwas Gutes?

Natürlich. Indien wird niemals ein autoritäres Land werden.

Stimmt es, dass China und Indien die neuen Supermächte werden?

Mit solchen Vorhersagen wäre ich vorsichtig. Es stimmt, dass beide Länder große Armeen haben, also sehen sich beide als potenzielle Supermacht. Europa hat das Militär hingegen komplett aufgegeben.

Ist das ein Fehler?

Es ist eine andere Weltsicht. Europäer wollen einfach nicht mehr kämpfen. Ein Supermacht im klassischen Sinn wird man so aber nicht mehr sein.

Auch nicht, wenn sich der Kontinent wirtschaftlich wieder erholt?

Das können Sie abhaken. Europa wird auch keine Wirtschaftssupermacht mehr werden.

Ist die Schuldenkrise so schlimm?

Es ist ja nicht nur die Schuldenkrise, auch die Bevölkerung altert sehr schnell.

Sollten wir nach Afrika übersiedeln?

In einem reichen, aber stagnierenden Land zu leben, ist nicht so schlecht. Europa hat sich immer bemüht, die Lebensqualität zu verbessern. Deswegen gibt es keine Armee, aber einen großen Sozialstaat. Dafür fehlt nur langsam die wirtschaftliche Basis. Reichtum kommt ja nicht vom Sozialstaat, sondern man muss reich sein, um sich diesen leisten zu können.

Viele junge Leute würden schon sagen, dass die Lage für sie schwierig ist.

Der Anpassungsprozess nach einer Phase mit niedrigen Zinsen und leicht verdientem Geld ist immer schmerzhaft. In vielen Ländern ist der öffentliche Sektor stark gewachsen – das muss irgendwer bezahlen. Ich glaube jedoch, dass Europa die Lage meistern kann. Es braucht nur eine solidarischere und einfallsreichere politische Führung als die jetzige.

Auf einen Blick

Meghnad Desai (72) ist ein aus Indien stammender, britischer Wirtschaftswissenschaftler und Politiker der Labour Party. Er lehrte an der University of California (Berkeley) und bis 2003 an der London School of Economics. In Wien hielt er einen Vortrag bei der Konferenz „BRIC and Beyond“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.