Was tun mit R. W.?

Richard Wagners Großartig- und Widerlichkeiten zu umkreisen ist auch eine Flucht vor der oft bösen Gewalt seiner Musik. Zu erwarten ist, dass man im anstehenden Gedenktaumel ein breit angelegtes Wagner-Bashing inszeniert. Der Monumentalität seiner zehn Mega-Opern wird man sich trotzdem nicht entziehen können. Zum Wagner-Jahr 2013.

Zugegeben, Wilhelm Richard Wagner verstört noch immer wie kaum ein zweiter Komponist;nein, nicht nur als Komponist, genauso als Allroundkünstler, Mega-Genie und Monster in einem. Der (vielleicht in dieser Reihenfolge) Alberich-, Sachs-, Isolde-, Holländer-, Wolfram-, Loge-, Telramund-Mann, mit Kundry-Zügen. Und zugegeben auch. Alle, die sich mit Musik beschäftigen, professionell oder nur als feinsinnige Dilettanten mit Wissen und Hörerfahrung, kommen um diesen Wagner nicht herum. Im Gegenteil, er begleitet uns lebenslang, vom ersten Klangerlebnis über heiße, mitgeweinte Tränen, über Abwehr und Abscheu, Verwunderung und Bewunderung bis zu frischen Verblüffungen beim Wiederhören. Es geht um mächtigste Häufungen, immer aus Musik plus Text, um Erfindungen parallel dazu (Innovationen zur Ermöglichung dieses Doppels mit neuen Theaterformen und -gebäuden), um Ideologien als Werbeträger, alles zusammen sowieso schon rund 150 Jahre auf dem Mime-Buckel. Es geht um eine Gefühlspalette, welche zwischen brutalem Gibichungen-Jubel und fahler Tristan-Todessehnsucht ihresgleichen sucht.

Ich habe mir als Halbwüchsiger neben dem Beethoven-Heros oder dem Schubert-Seelenverstörer, neben häufiger selbst gewährten Überraschungen mittels Moderne und langsam von den Obrigkeiten erlaubter Popmusik zeitweise vor allem den Wagner so richtig reingezogen. Der Erfolg war ein ziemlicher Erfahrungs-, dann Erkenntnisprozess. Der staunend Verblüffte lernte so nämlich einiges zugleich; etwa mit den herrlichen Hinterhältigkeiten und mit der Bombastik von Musik umzugehen, klar die Abläufe von Diatonik, Chromatik und bei der Auflösung des Orthodoxen zu verfolgen, kritisch zu werden durch jenen selbsternannten Meister, was Poesie, Avantgardismus, zuvorderst aber Kunstpolitik betrifft, sowie schlicht sehr lange an manchmal übervoller Musik fast unabgelenkt dranzubleiben.

Geburts- und Todestage verpflichten ganze Republiken ob unseres seltsam-nostalgischen Kulturverständnisses, Gedenktage kanalisieren die Kulturbudgets von Nationen und Großfestivals. Die erste Hälfte 2013 wird vor allem dem 200. Geburtstag Richard Wagners (22.Mai) gewidmet sein, die zweite, übergreifend, dem 200. Giuseppe Verdis (geboren wahrscheinlich am 9.Oktober). Wieland, Corelli, Eichendorff, Hebbel, Storm oder Körner, Munch und Camus sowie leider auch Benjamin Britten, Georg Büchner und Superman gehen daneben ein wenig unter oder leer aus.

Später, nach dem Mit- und Heranwachsen, nach einem zumindest Kennenlernen des Wagner-Werkes? Es erging mir, Jahre hindurch, ein wenig wie unserem aktuellen Musikschrifttum im Wagner-Zaudern während der vielen Monate noch vor 2013. Man steht da einem der wesentlichsten Menschen der Weltkulturgeschichte gegenüber, einem Genie (unbedingt, an wen wäre das Wort sonst noch bewundernd und ironisch anzulegen), einem Innovativen, vergleichbar höchstens mit einem halben Dutzend an Ausnahmepersonen.

Zudem verharren, erstarren noch immer und nicht so selten Wissenschaft, Ausführende und Publikum vor dem Meister Wagner, der beforscht worden ist wie wenige zweite, der kritisch bereits mit jedem hinterlassenen Fuzelchen ediert wurde, mit dessen Werk auf Groß- und Eigenfestspielbühnen so ausfransend, so teuer, so divergent experimentiert worden ist wie mit keinem anderen.

Was tun, jetzt noch, mit einem solchen R. W.? Außer abermals ihn mit einem (zu fast allen sonstigen Opern vergleichslosen) Aufwandzu inszenieren, gebannt dann dem Pomp zuzuschauen und -hören, sodann wieder mitgenommen, verblüfft, Wotan-ähnlich zornumwallt und Elisabeth-gleich hingerissen zu sein? Vor allem ihn doch wieder nicht fassen, ihn und sein Œuvre nicht glatt beschreiben zu können – diesen Wagner, der mich packt, mich ob seiner Perfektion eifersüchtig macht, mir schnöde meine Zeit raubt, der in seiner dargebotenen Fülle an stringenten Opernvorlagen, gebettet in überbordende Vertonungen, nicht als Summe darstellbar ist – dieser Wagner, dieses Lohengrin-leuchtende Musik-Alien und menschliche Schwein?

Sein Werkkatalog ist äußerlich so schmalwie kaum bei sonst einem Komponisten der ersten Kategorie. Er besteht vorerst aus Jugend-, Sturm-und-Drang-, Anlass- und Trainingsstücken, ein schlichter Verlauf aus einfachen Klavierpiecen über Symphonisches bis zu Projekten, die im Späteren aufgegangen sind oder im Entwurf sogar vor einer Jesus-Geschichte und einer Buddhismus-Opernicht Halt gemacht haben; dann aus fertigen Sachen im scheinbar armen Wagner-Köchel, die sich als „Liebesverbot“, apostolisches „Liebesmahl“, „Feen“ und „Rienzi“ – die Gesellenoper des Meisters –, das Volkstribunenstück, dem er selbst nachzuleben versucht hat, oft epigonal erschöpft haben. Der Vokalgigant Wagner schrieb zudem (außer Marginalien, dem Musiklaboratorium der „Wesendonck-Lieder“ und zur Eigenreklame angefertigten Opernexzerpten) keine Gesänge und keine bedeutende Kammermusik (will man das „Siegfried-Idyll“ nicht mitrechnen).

Doch Wagner verfasste, erstellte, errichtete, schuf, erschuf – zehn durchkomponierte Riesenopern, im Umfang aufsteigend,„Chimborazos“ (wie es schon zu Lebzeiten hieß).

Und dort?

Jenes „selbst Nachleben“? – Das Beispiel „Rienzi“ im Spiegel der europäischen Revolutionen Mitte des Wagner-Jahrhunderts ist ja schon schlagend. Allein, weiterspekuliert in diesem heiklen Bereich von biederem Leben & Werk? Liegt nicht hier noch immer der vertretbare Ansatz? Unserem Meister Richard lässt sich 200 Jahre nach dessen Geburt vielleicht damit gefügig begegnen, entgegengehen, dass wir vorerst unter den Innovationen und Typisierungen in diesen seinen zehn Monstren herumsuchen und alles punktuell mit Wagners Vita (Phantasmen, Pamphlete und Ideologie inklusive) anleuchten?

„Der fliegende Holländer“. Ein aktuelles Seelenfenster: Herrscht dort, wie heute vor allem in den Zeitgeistmedien, Schauderromantik pur? Oder? Wagner segelt jedenfalls voll im Aktuellen. Das machte er gern, immer. Oder? Im Grunde hat er mit und nach dem „Holländer“ viel für den europäischen und vor allem fürden deutschen Zeitgeist des 19.Jahrhunderts vorformuliert. Antiintellektualismus, Historismus, nationale Innerlichkeit oder Heldenposen sollten auch durch ihn prägend werden. Er bediente sich beim „Holländer“ – wie später stets, denken wir nur an Meyerbeer, Mendelssohn oder Lisztsche symphonische Dichtungen –, sowohl schnöde als auch ingeniös weiterentwickelnd, aktueller Vorlagen. Von Webers „Freischütz“ prägte ihn sehr; zudem macht er Anleihen, unter anderem bei Marschner, Berlioz und beim lebenslang verehrten Beethoven, dessen Neunte dann das von Wagner einzig zugelassene Fremdwerk für Bayreuth sein darf. Wagner subsumiert zudem (er wird das noch oft in den Opern tun) sein bisher wüstes, wenn auch nicht wirklich sensationelles Leben. Stichworte: In der Jugend herumgeschoben, Geld und Bestätigung suchend auf europäischen Kunstplätzen, Natureindrücke,als Theatermann und privat hypertroph und vorerst scheiternd. Der Opern-Erlösungsgedanke wird, wie später zentral der Verrat, auskomponiert. Er zieht sich – so die Wagner-Exegesen – durch das Gesamtwerk. DochWagner beschreibt sich so vor allem selbst, lügt von Erlösungen aus seinem „Wähnen“, also aus nichts anderem als den eigenen Süchten und dem Drang, sich faustisch strebend zu bemühen und dabei den Augenblick um Verweilzeiten anzubetteln.

Geschieht Ähnliches in den neun weiteren Chimborazos?

„Tannhäuser“. Seelenfenster: die Oper vom Kunstmachen auf der Basis von ein bisschen harmlosem Sex, cool/hot, gut geschüttelt und gerührt. Wagner verbleibt dergestalt bis zum Schaffensende, sein Sexbild wird sogar spießig, beinahe frigide (selbst im Liebesduett Isolde/Tristan, voll aber etwabei Eva, Gutrune, Elisabeth, den diversen Nornen, Rheintöchtern, den Walküren, dennur auf sich bezogenen Meistersinger- und Gralsritter-Gesellschaften). Seine Liebesmusiken sind prächtig, erotisch sind sie kaum (sieht man von Sehnsuchtsmotiven ab). Venusberg, Klingsors Zaubergarten, die schlafende-geweckte, quellende Brünhilde, die Göttinnen . . . als Eros, vergleichbar mit Monteverdi, Mozart, Verdi, Berg, eher peinlich.

Aber Wagner beginnt, das deutsch-nordische Mittelalter plus vorgelagerter Märchen- und Sagenzeit zu durchmessen.

„Lohengrin“. Unser Fenster: In Wagners Theaterwelt begegnen und bedingen einander Realität, Bühnentricks (von Liebes- und Vergessentränken bis zur Aufhebung von Raum und Zeit) sowie Metaebenen, die in einem Übermensch(en)tum oder in Parallelkosmen angesiedelt sind. Er agierte so auch gezielt in schnöder Realität, am „taghellen Tag“, während der ersten Aufenthalte in der Schweiz, in Wien und Paris, in seiner Verbindung zu Ludwig II., bei Haupt- (Minna oder Cosima) und Nebenfrauen (Mathilde, Jessie und temporäre Affären als Lebens- und Kunstelixiere).

Der Schwanenritter und Elsa: Kinder auf der Suche nach sich selbst, wie Wagner gern und manieristisch, lebenslang. Das Umfeld: Deutschland (hier exemplarisch deutsches Hochmittelalter) beginnt sich als Welt-Player zu fühlen und die Kolonisation des Ostens vorzubereiten, was in einen Zweiten Weltkrieg münden wird. Die Metaphysik: christliches Schimmermärchen in hoher Sentimentalität. Gültig für Werk & Leben: Mixtur aus Macht, Unverstehen, bilderreich Transzendentalem, bürgerlichem Trauerspiel.

„Das Rheingold“. Wagner hat vor allem Lebens(lang)projekte unternommen. Der Parsifal-Stoff und der Nibelungensagenkreis beschäftigten ihn vor der ersten Note dafür. Er trug die Fabeln Jahrzehnte mit sich, auch während der Komposition anderer Opern. Mitte der 1840er-Jahre schon konzipierte er an „Meistersingern“ und für einen „Ring“ (der dann, knapp zehn Jahre später, als Text quasi von hinten verfasst und mit einer Großunterbrechung als immer ausladender werdendes Projekt in mehr als 20 Jahren komponiert worden ist).

Während der ersten Schaffenszeit las Wagner Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“. Man sagt, die Lektüre habe die Endgestalt der riesigsten Operntetralogie der Musikhistorie wesentlich beeinflusst und das geschilderte Weltuntergangsszenario, welches auf menschlichen Gemeinheiten und Götterversagen sich gründet, geprägt.

Es bleibt Diskussionsgegenstand in der Forschung, wie stark Philosophie für seine Opernplots (nicht allerdings für die sonstigen Schriften) überhaupt prägend gewesen ist und nicht bloß Denkansätze oder ideologische Angelpunkte geliefert hat. Über – später – Wagner/Nietzsche zwischen Begeisterung, Entfremdung und Hass wird viel spekuliert, vor allem genüsslich wiedergewälzt. Waren die beiden einander zu ähnlich? Erfuhr Nietzsche sich und sein Scheitern als Künstler in Wagner?

„Das Rheingold“, die Ouvertüre innerhalb der vier Opern, hat, trotz der im Zyklus dann stringent durchgezogenen Leitmotive, trotz der Entwicklung einer neuen Opernrhapsodik und der zu allem bisher unerhört neuen, verstörend-begeisternden Klangwelt eine noch vergleichsweise einfach konzipierte Struktur. Die stete Wagner-Frage aber bei „neuer Musik“: Sollte man seine Schriften nicht studiert haben, ehe man über Kompositionen urteilt (etwa „Die Revolution“ 1849, „Das Kunstwerk der Zukunft“ 1850, „Oper und Drama“ 1851, „Über Staat und Religion“ 1864, „Religion und Kunst“ 1880, Autobiografisches)?

Oder lieber doch nicht?

„Die Walküre“. Die Menschen sind ein Götterstreitobjekt wie bei Homer. Die Walküren haben ihr Heldenspielzeug, Sieglinde ist die berührendste Frauengestalt. Kann/konnte Wagner außer durch Klänge berührend sein?

Lesen wir nach. In Briefen vor allem. Da fordert einer, stellt sich ausschließlich selbst dar, agiert als Zentrum, weiß alles besser, ist selbstgerecht, sentimental, manchmal verletzend, unterwürfig, im Befehlston. Aber – auch – kindlich, vereinnahmend-naiv. In den Briefen an Mathilde von Wesendonck etwa. Ein Seelenfenster? Wagner schreibt ihr simpel, witzig gar, liebevoll fast ohne Hintergedanken, so liebevoll, wie das keine seiner Opernfiguren könnte. Und noch zwei Wagner-Beleuchtungen, gewonnen aus der „Walküre“: Im ersten Teil des zweiten Aktes steht quasi die Welt auf der Kippe. Wotan weiß, dass nur der eben gezeugte Siegfried das vor allem durch ihn verlotterte System retten kann, undzwar in Gesellschaft einer trauten Familie aus Zwillingseltern. Fricka ergreift ihre Chance und rächt sich an ihrer, seit Jahrhunderten (?) schon durchlittenen Ehe. Sie stellt eigene (der Menschen) moralische Prinzipien über das Götter- und Götzentum. In ihrem Willen zur Macht zwingt sie die Götter in ihre Dämmerung, den Kosmos (zweieinhalb Opern lang wird das noch dauern) wieder zurück zum Start, in den Urzustand des „Rheingold“-Beginns. Wagner – Wiederkehr?

Anfang des dritten Aktes. Die Walküren treffen sich in einer Art wild-verwehtem Clublokal. Im Gepäck schleppen sie, offenbar üblich, gefallene Helden mit. Parallel zur Nibelungennot spielen sich also auf Erden permanent weitere letale Kämpfe und Katastrophen ab. Die Welt ist demnach noch viel wüster, als wir das in unserem kleinen, auf uns bezogenen Schlamassel begreifen.

„Siegfried“. Aktuelle Seelenfenster: Mutter – Rasse. Ein ausladendes Kammerspiel, meist agiert nur ein Paar. Mime, man sagt, Wagner habe neben seiner 1850 verfassten und 1869 (schon in der Zeit der Erstaufführungen von Teilen des „Rings“) erweiterten Schrift, „Das Judenthum in der Musik“, bei der Zeichnung des Alben seinen auch seltsamen und eifersüchtelnden Antisemitismus herausgelassen. Die Wagner-Rezeption (sie heute wieder) beschäftigt sich – neben immer teurer werdenden Wiedergaben – zum Großteil mühevoll mit diesem Wesenszug und dessen sogar schrecklichen Folgen.

Allein, Gegensatz? Wagner offeriert im „Siegfried“ ein Frauenbild, das ödipal zu nennen ist, in stammelnder Selbstbegeilung an der Mutter und (ichbezogen) an sich, am dem genialen, alle besiegenden Kind, welches vor jungen Frauen, wie die beinahe vergewaltigte und dann mit Mutterschreien beworbene Brünhilde auf ihrem Felsen, nicht Halt macht. Aber Wagner unterbrach während Siegfrieds schwüler Mutterschwärmerei im Waldweben und in Erwartung eines die Handlung nun doch endlich weitertreibenden Vögeleins sowieso die „Ring“-Komposition für beinahe eineinhalb Jahrzehnte.

Übrigens, Wagners zweite Frau, Cosima (Liszt, Bülow), die zu Kindern und Ehe führende Affäre der 1860er-Jahre, wurde erst nach „Tristan“ und zwei Dritteln des „Rings“, also in satter werdender „Meistersinger“-Zeit, aktuell, als Mutter, Trophäe, Managerin, adorierende Hausfrau.

„Tristan und Isolde“. Kaum eine Komposition hat den Musikfortgang derart geprägt, aus der Bahn und in andere Bahnen geworfen. Die (mit Auftakt) drei Beginntakte der Einleitung sind ein Nukleus, der die Kraft für den Urknall namens Moderne-Beginn in sich trägt.

Die noch immer spontan kaum fassbare Oper wurde ab 1856 gemacht, in Jahren neuerlichen Umherziehens: Luzern/Tribschen, Paris, Sankt Petersburg, Wien, Venedig.

Dann endlich spielte Ludwig II. Deus ex Machina und ermöglichte ein Bayreuth.

Neue Musik in der zweiten Hälfte der 1850er (Auswahl): Bruckner noch ohne Großwerk, Brahms erst am Beginn, Verdi hat „Rigoletto“, „La traviata“ oder „Il trovatore“ hinter sich, nationale und Welt-U-Musik scharren in den Startlöchern.

„Die Meistersinger von Nürnberg“. Satter Rückzug? Ein Scheitern im heiteren Spieltheatergenre zugunsten eines hellen, virtuosen Fünf-Stunden-Monsters? Vorausgeahnte Bürgerlichkeit zu Bayreuth? Politische Kunstanklage? Nürnberg ist Deutschland, ist Partikularismus, ist die noch gemächliche Hexenküche für das 20. Jahrhundert.

Der brennende, kleine Mann mit dem Riesenschädel richtet sich im C-Dur ein, um der Musiker Nummer eins der Welt zu sein.

„Götterdämmerung“. Wir sitzen im Kino, schauen in neue Filme, solche, die digital Dreidimensionales suggerieren, auf rasenden Kamerafahrten; das Schau-Hör-Ich wurde zum mitagierenden Gegenstand; zeitweise herrscht ein Riesenfest aus Handlung, Zerstörung, Musikwolken, dümmlichem Firlefanz und Klangpermanenz. Wagner machte alles vor. Kaum eine Filmmusik existiert ohne ihn. Doch er bringt sich in der „Götterdämmerung“ selbst an Grenzen. Die Schlüsselszenen sind karg, die Apotheose wirkt wie aufgesetzt. Dazwischen lockt er Hörende und Schauende, inszeniert einen Riesenmaschinenraum an Stimmen,Motivverzahnungen, überschwappenden Emotionen und an elendiglichem Verrecken.

„Parsifal“. Unser beleuchtendes Seelenfenster aus der Opernselbstweihe: Da klagt der ob ehemaliger Begierden leidende Amfortas (und nicht Wagners Reinkarnationswunsch im Titelhelden oder ein Hans-Sachs-Gurnemanz, gar die hysterische, Christus-schmähende Kundry): „Was ist die Wunde, ihrer Schmerzen Wuth gegen die Noth, die Höllenpein, zu diesem Amt verdammt zu sein! . . . Der Göttliche weint ob der Menschheit Schmach . . . Erbarmen!“

Jedenfalls – Jugendstil, Präraffaeliten, Symbolisten sowie „furchtbare Zerknirschung und Qual, von Wagner sein ganzes Leben lang geübt“ (Thomas Mann), waren ab nun verbindlich drin in der Musik dieser Welt.

Und doch ahne ich, Wagners Nachwirkung, Zeugnisse, Großartig- und Widerlichkeiten zu umkreisen ist auch eine Flucht vor der oft bösen Gewalt seiner Musik. Wir warten, dass man 2013 ein breit angelegtes Richard-Wagner-Bashing inszeniert. Der Monumentalität seiner zehn Mega-Opern, ihren vorgeplanten Wirkungen, der Intensität von Chromatik, Todessehnsucht und dem Parteitagsjubel wird man sich trotzdem kaum entziehen können.

Selbst das an Wagner-Kritik geschulte, klug tuende Schrifttum kam nicht umhin, ihn mit Epitheta zu zieren, „Prophet/Verkünder“, „romantischer Gefühlsparoxismus“, „Papst ohne Kirche“ und so fort; einer eben, der schon zu Lebzeiten mehr Anhänger besaß als jeder Parteiführer.

Den Johann Nestroy zu Hilfe genommen. Sein „Tannhäuser“ (dritter Akt, er besoffen daherstolpernd hinter einem Gesangsverein, klagend über die Neue Musik, auf der Suche nach einem Opernhaus): „. . . wo man die Zukunftsoper kultiviert, weil man bei der am schnellsten seine Stimme ruiniert.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2012)

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