Gerettete Kinder von Wien

Erich Fried, Arthur West, Otto Tausig gehörten zum „Young Austria“, der Emigrantenorgani-sation junger Österreicher in Großbritannien. Sonja Franks biografische Skizzen schildern die verschlungenen Lebenswege zwischen Österreich, Großbritannien und anderen Ländern. Denkmal und Fundgrube.

Die Konvention sieht eigentlich den umgekehrten Weg vor: dassals Erstes die von geschichtlichen Ereignissen Betroffenen sich zu ihrer Lebensgeschichte äußern, in Form von Autobiografien, Protokollen, literarischen Mischformen, hierauf die Historiker auf den Plan treten – spätestens dann jedenfalls, wenn die sogenannten Zeitzeugen das Zeitliche gesegnet haben und nicht mehr dazwischenfunken können mit ihren unzuverlässigen oder unbotmäßigen Erinnerungen.

Über das österreichische Exil in Großbritannien liegen zahlreiche Gesamtdarstellungen und Detailstudien vor, die meisten von ihnen erschöpfend und mit hohem Anspruch geschrieben, den sie auch eingelöst haben. Aber jetzt hat Sonja Frank, deren Großeltern zu den Gründungsmitgliedern des „Young Austria“ (Emigrantenorganisation junger Österreicher in Großbritannien) zählten und deren Mutter im englischen Exil geboren wurde, einen schön gestalteten und reich illustrierten Sammelband über die österreichische Jugendbewegung im britischen Exil herausgegeben, der sich nicht an wissenschaftlich Interessierte wendet, sondern einem breiten, auch jugendlichen Publikum zumutbar ist – und diesem nachdrücklich ans Herz gelegt sei.

Frech, ja fast trotzig hat Sonja Frank die Losung der Young Austrians in den Untertitel gesetzt: „Für ein freies, demokratisches und unabhängiges Österreich“. So unumstritten war dieses Ziel nicht, schon gar nicht in England, wo das London-Büro der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten um Oscar Pollak und Karl Czernetz die längste Zeit an der Idee einer gesamtdeutschen Revolution sowie an der Weigerung festhielt, gemeinsam mit anderen Österreichern gegen das Naziregime zu kämpfen.

Mehr als 27.000 Österreicher haben während der Naziherrschaft in Großbritannien Aufnahme gefunden, etwa jeder Zehnte von ihnen dank der von England und Holland aus initiierten Kindertransporte. Die solcherart geretteten jüdischen Kinder und Jugendlichen, die fast ausschließlich aus Wien stammten, bildeten den Grundstock der österreichpatriotischen, zugleich internationalistisch ausgerichteten und kommunistisch inspirierten Jugendorganisation, die im März 1939 gegründet wurde, eine rege kulturelle und politische Tätigkeit entfaltete, im Jahr 1943 1300 Mitglieder im Alter zwischen 14 und 25 Jahren zählte und nach ihrer Auflösung Anfang 1947 in der Freien Österreichischen Jugend aufging.

„Young Austria“ war nicht nur in London – dem Sitz des „Austrian Centre“, des Dachverbands aller österreichischen Flüchtlingsorganisationen – aktiv, sondern durch Ortsgruppen in vielen englischen und schottischen Städten präsent. Die Exilösterreicher fanden in Großbritannien günstigere Lebensbedingungen als in anderen Zufluchtsländern vor, ungeachtet der nazideutschen Luftangriffe und obwohl die Männer bei Kriegsausbruch für längere Zeit als „feindliche Ausländer“ interniert wurden.

Franks Buch bietet nicht nur eine detaillierte Überblicksgeschichte, die sich über die Zeit nach der Befreiung Österreichs und der Rückkehr vieler Exilierter erstreckt, sondern geht auch ausführlich auf die Kindertransporte, die Internierung und den Kampf von Österreichern in den Reihen der britischen Streitkräfte ein. Herzstück des Sammelbandes sind allerdings 76 biografische Skizzen, die aus verschiedenen Perspektivenund mit ganz unterschiedlicher Intensität, auch unterschiedlichen Zugängen und Darstellungsweisen, die vielfältig verschlungenen Lebenswege zwischen Österreich, Großbritannien und anderen Ländern schildern. Sonja Frank und ihren Mitarbeitern gelingt es dabei, die Exiljahre – wie auch die Jahre davor und die Jahrzehnte danach – nicht nur als solche der Bedrängnis, Not und Hoffnung darzustellen, sondern als Angelpunkte eines meist erfüllten Daseins, wobei die Erfüllung dem Zusammenschluss, der Gemeinsamkeit, dem jugendlichen Miteinander geschuldet war. Dass die politischen Erwartungen der meisten Reemigranten nach 1945 enttäuscht wurden, fällt angesichts der Enttäuschungen nachfolgender Generationen gar nicht so sehr ins Gewicht. Und sie hatten und haben individuell wie gesellschaftlich immerhin viel gewagt und einiges bewirkt.

Erfreulich, dass die Verfasser der einzelnen Beiträge – manchmal sind es, wie Frank, Kinder von Exilierten – nicht nur die berühmt gewordenen oder wenigstens von einer Minderheit in ihrer Bedeutung erkannten Young Austrians würdigen (Künstler wie Erich Fried, Georg Eisler, Franz Pixner, Otto Tausig; politische Publizisten wie Georg Breuer, Teddy Prager, Leopold Spira; Wissenschaftler wie Edith Rosenstrauch und Herbert Steiner), sondern vor allem für jene einstehen, die vergessen oder erst gar nicht bekannt geworden sind – und das sind in erster Linie Frauen. Lesend trauere ich umdie vielen Verstorbenen speziell der letzten Jahre, um deren Erfahrungen ich mich aus Unwissen um ihre Existenz gebracht habe, oder weil ich aus Scheu, ihre Zeit zu verplempern, es verabsäumt habe, auf sie zuzugehen und sie zu befragen.

Als hätte es dieses Beweises noch bedurft, macht das Buch nebenbei deutlich, wie blöd die antisemitische Vorstellung vom bindungslosen Juden – und wie lächerlich die philosemitische Variante, mit ihrer Projektion des eigenen spießerhaften Vorbehalts auf eine kulturelle Gemeinschaft – doch ist: Es waren in Großbritannien, wie überall auf der Welt, gerade Menschen jüdischer Herkunft, die während der Zeit des Naziterrors, und bis weit in die Gegenwart, den Glauben an Österreich – an das freie, demokratische, unabhängige – hochgehalten haben. Sonja Frank und ihre Mitstreiter haben ihnen ein stabiles, dauerhaftes Denkmal errichtet. Jetzt ist es an uns, es auch zu besichtigen. ■



Sonja Frank (Hrsg.)
Young Austria

ÖsterreicherInnen im britischen Exil 1938–1947. 488 S., brosch., €29,90 (ÖGB Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2013)

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