Sinai: Beduinen trieben Organhandel

(c) AP (AMR NABIL)
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Seit dem Jahr 2007 sind auf der ägyptischen Halbinsel Sinai 4000 Flüchtlinge aus Afrika verschwunden. Wurden sie Opfer von Banden, die Lösegeld von den Verwandten zu Hause erpressten und Organe verkauften?

Kairo. Erst schütteten die Peiniger der 24-Jährigen Diesel über den Kopf, dann zündeten sie ihr die Haare an. Immer wieder wurde die junge Frau aus Eritrea mit Elektroschocks gequält, mit den Füßen an der Decke aufgehängt und geprügelt, bis ihre Verwandten zu Hause schließlich das geforderte Lösegeld von 25.000 Dollar aufgetrieben hatten. Sieben Monate lang war sie bei Beduinen auf dem Sinai gefangen. Anderen Leidensgenossen tropften die Entführer heißes Plastik auf die Haut, vergewaltigten sie mit Stöcken, ketteten sie tagelang aneinander, ließen sie hungern und dürsten, während die Familie daheim die Schreie der Gefolterten über Handy live mit anhören musste. „Wir werden euch töten, die Organe herausschneiden und verkaufen, wenn ihr das Lösegeld nicht heranschafft“, drohten die Folterer. Und bei Hunderten machten sie offenbar ihre Drohung tatsächlich wahr.

Massengrab bei El Arish

So fanden Menschenrechtler in der Leichenhalle des Hospitals von El Arish, der Provinzhauptstadt im Norden des Sinai, Verstorbene, deren Körper in der Mitte oder an den Seiten mit großen Stichen wieder zugenäht worden waren. Nieren, Leber, Herz, Augenlinsen – alles hatten die Organdiebe herausgeschnitten. Andere Unglückliche wurden als menschlicher Abfall irgendwo auf der kargen Halbinsel verscharrt. Allein 2011 stießen ägyptische Aktivisten an Straßenrändern auf über 100 verweste Leichen von Gefolterten oder Verhungerten. „Doktoren aus Kairo rufen mich an und sagen mir, wir haben hier einen Privatpatienten und brauchen dieses oder jenes Organ. Es ist wie bei Ersatzteilen für ein Auto“, erklärte ein Beduine in einem anonymen Telefonat gegenüber CNN.

Gut tausend namenlose Opfer wurden in den vergangenen Jahren anonym in dem Al-Sadaka-Massengrab außerhalb der Friedhofsmauer von El Arish begraben, direkt neben der Müllhalde eines angrenzenden Slums. Nach gemeinsamen Schätzungen verschiedener Menschenrechtsgruppen sind seit 2007 mindestens 4000 Menschen auf dem Sinai spurlos verschwunden. Sie alle waren Flüchtlinge aus Eritrea, Äthiopien oder dem Sudan, sind ihren Peinigern im Umkreis der Flüchtlingslager Mai Aini in Äthiopien und Shagarab im Sudan in die Hände gefallen, die auch als wichtigste Anlaufstelle für Flüchtlinge aus Eritrea fungieren. Mithilfe von Beduinen-Schleusern wollten sie ihr Glück in Israel versuchen.

Kidnapping, Lösegelderpressungen, Folter, Vergewaltigungen und Organraub – die Verbrechen an afrikanischen Flüchtlingen auf dem Sinai gehören zu den schlimmsten humanitären Missständen der Region. Seit geraumer Zeit beobachte die deutsche Bundesregierung die „Entwicklung des Menschen- und Organhandels auf dem Sinai mit Sorge“, hieß es kürzlich in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. Man habe Hinweise, wonach ein Beduinenstamm von 2010 bis 2011 afrikanische Flüchtlinge entführt „und ihnen Organe zum Weiterverkauf an ägyptische Krankenhäuser entnommen“ haben soll. „Es sollen etwa 200 bis 250 Personen Opfer dieser Praxis geworden sein, nicht wenige seien durch die Eingriffe zu Tode gekommen.“

Das Thema ins Rollen gebracht hat seinerzeit der Bericht einer ägyptischen Tageszeitung über den tödlichen Autounfall eines Kairoer Arztes auf dem Sinai, der in seinem Wagen eine Kühlbox mit menschlichen Organen dabeihatte. Laut CNN operieren die korrupten Mediziner und Organhändler auf der schwer kontrollierbaren Halbinsel auch in mobilen Kliniken. Eine umfangreiche Dokumentation der EU vom September 2012 zeichnet das Bild einer systematischen Organhandelindustrie. Für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) funktioniert Ägypten als regionale Drehscheibe in dem teuflischen Geschäft. Und Amnesty International spricht von einer „Tragödie quer durch zahlreiche Staaten“, die von der internationalen Gemeinschaft einfach ignoriert werde.

Westen ignorierte Hinweise

Von den 50.000 bis 60.000 afrikanischen Flüchtlingen, die es seit 2007 im Sinai illegal über die Grenze nach Israel geschafft haben sollen, haben nach Schätzungen der Organisation „Ärzte für Menschenrechte“ (PHR) in Tel Aviv 5000 bis 7000 die beduinischen Folterkammern überlebt. Aufgrund der Zeugenaussagen habe man eine detaillierte Karte angefertigt, mit den genauen Koordinaten der Folterzentren sowie Wohnorten und Namen der Menschenhändler. Die Dokumentation sei der ägyptischen Botschaft in Israel, aber auch dem Außenministerium in Washington und dem britischen Premier David Cameron übergeben worden. Trotzdem gebe es nach wie vor keinerlei Anzeichen dafür, dass gegen den ruchlosen Sklavenhandel auf dem Sinai irgendetwas unternommen werde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2013)

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