Es gibt viele Tricks, die Menschen anwenden, um andere auszubeuten und sexuell zu missbrauchen. Der BBC-Star führte sie vor. Vor aller Augen. Großbritannien stellt sich nun ein paar peinliche Fragen.
Wehende weißblonde Haare, seltsame Brille, Gewand in Papageienfarben: So schauen Exzentriker aus. Wenn man Exzentriker ist, kann man sich alles erlauben. Dann gelten die normalen Maßstäbe nicht. Jimmy Savile, vor einem Jahr verstorbener Star-Entertainer der BBC, muss genau mit diesem Gedanken kalkuliert haben.
Ob männlich oder weiblich, kindlich, jugendlich oder erwachsen – völlig egal. Er griff hin, drängte sich heran, bediente sich; manchmal brauchte es Verführung oder Schokolade, manchmal rohe Gewalt. Der vor Kurzem veröffentlichte Untersuchungsbericht offenbart das ganze Ausmaß seiner Übergriffe: 450 Opfer haben sich gemeldet, drei Viertel waren zum Tatzeitpunkt minderjährig, 34 Vergewaltigungen sind bisher aktenkundig, 28 davon an unter Zehnjährigen. Alles passiert zwischen 1955 und 2009.
Großbritannien, starr vor Staunen, stellt sich nun Fragen, die nicht nur Großbritannien angehen: Wie ist es möglich, dass man diesem Mann so viel durchgehen ließ? Was schützte ihn so lange vor Entdeckung und Strafe?
Zunächst erinnert uns der Fall Savile daran, dass permanente öffentliche Sichtbarkeit nicht zwangsläufig Transparenz bedeutet. Sie kann, im Gegenteil, auch als Schutzschirm dienen. Savile grapschte sogar vor laufenden Kameras seiner Live-Shows. Das erhöhte den Kitzel. Gleichzeitig immunisierte es ihn. Weil jemand, der dermaßen offen agiert, ja sicher nichts zu verbergen hat, oder?
Saviles Bekanntheit diente als Magnetfeld. Einem Star wollen viele Menschen nah sein. Fans mit ein bisschen Zuwendung in Ekstase versetzen zu können – das muss sich toll anfühlen. Vermutlich hält man es irgendwann gar nicht mehr für möglich, abgewiesen zu werden. „Jim'll fix it“ hieß eine seiner Erfolgsshows. Es war ein Versprechen: Sag mir deinen geheimsten Wunsch, ich kann ihn erfüllen, denn ich habe alles in der Hand. Aus heutiger Sicht klingt das beängstigend doppeldeutig. Doch wer fragt nach, solange die Quoten stimmen?
Prominenz öffnet Türen – auch zu Orten, die anderen verschlossen bleiben. Savile diente sich Spitälern, Kinderheimen und Waisenhäusern als Wohltäter an. Er organisierte Fundraiser, machte Freiwilligendienste (gern über Nacht) und hatte damit freie Bahn, seine Fantasien auszuleben. Um ihn herum errichtete er eine Mauer aus Dankbarkeit, die ihn schützte. Er ist nicht der einzige Täter, der sich als Wohltäter tarnt. Eine besonders perfide Strategie. Denn welches Opfer wehrt sich gegen jemanden, dem es glaubt etwas schuldig zu sein?
Wir kennen das Muster vom Wilhelminenberg: Wie andere Serientäter hatte Savile ein feines Sensorium für die Verwundbaren. Arme Kinder, Behinderte, Heimkinder, Jugendliche aus zerrütteten Familienverhältnissen, in einem Fall gar ein todkrankes Kind in einem Hospiz. Solche Menschen leben oft in einer eigenen, abgeschotteten Welt.
Sie haben wenige verlässliche Vertrauenspersonen, kein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, wenig Widerstandskraft gegen Übergriffe und haben selten erfahren, dass man ihnen zuhört und ihre Erfahrungen wichtig nimmt.
Nein, Savile konnte sich nicht unbedingt darauf verlassen, dass die Polizei ihm glauben würde, wenn Aussage gegen Aussage stünde. Aber er konnte sich darauf verlassen, dass solche Kinder gar nicht erst auf die Idee kommen, sie hätten gegen ihn eine Chance.
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Zur Autorin:
Sibylle Hamann
ist Journalistin
in Wien.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2013)