Wir sind in der digitalen Pubertät

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Mit den Möglichkeiten eines Publikums, das sich in jeder Angelegenheit einzubringen vermag, müssen wir erst umzugehen lernen: Warum wir eine neue Medienethik brauchen.

Es ist eine Schlüsselszene des Enthüllungsjournalismus. Am Abend des 1. Oktober 1969 beginnt Daniel Ellsberg, die sogenannten Pentagon Papers zu kopieren. Sie belegen die schmutzigen Propagandatricks der amerikanischen Regierung bei der Vorbereitung des Vietnam-Krieges. Wochenende für Wochenende steht Ellsberg am Kopierer, lässt Papierstapel um Papierstapel in seine Aktentasche gleiten, setzt manchmal seinen kleinen Sohn zur Tarnung ein, um eine Atmosphäre der Harmlosigkeit vorzugaukeln, wenn die Sicherheitskräfte wieder einmal plötzlich die Büros durchstreifen. Viele weitere Monate dauert es, bis amerikanische Zeitungen Auszüge aus den Pentagon Papers drucken und die Regierung als Kriegstreiber am öffentlichen Pranger steht, die weltweiten Proteste eskalieren.


Die digitale Revolution. Heute ginge alles ganz schnell. Heute bräuchte man nur ein paar Datenträger und könnte dann die Dokumente sofort selbst im Netz publizieren. Die digitale Revolution hat die Enthüllung und den Geheimnisverrat unendlich leicht. Aufzeichnungsmedien wie Handys und Smartphones, Digitalkameras, leis-tungsstarke Computer, Verbreitungsmedien im Social Web, persönliche Websites und Wikis sind längst allgemein zugängliche Instrumente der Skandalisierung.

Und was einmal digital vorliegt, besitzt eine neue Leichtigkeit und Beweglichkeit, kann blitzschnell kopiert, kombiniert und verbreitet werden. Bradley Manning, der mutmaßliche Zentralinformant von WikiLeaks und ein moderner Enthüllungsepigone Daniel Ellsbergs, benötigte für den womöglich größten Datendiebstahl der Geschichte – zahllose Dokumente aus dem Innenleben der amerikanischen Diplomatie, Berge von Material aus dem Irak- und Afghanistan-Krieg – nach allem, was man weiß, nur ein paar Nachmittage und einige wenige CD-Rohlinge.

Das heißt: Die technische Dimension der digitalen Revolution ist offensichtlich. Weniger offensichtlich sind die gesellschaftlichen Folgewirkungen, die sich aus der allgemeinen publizistischen Selbstermächtigung und dem Zusammenspiel alter und neuer Medien ergeben.

Es ist zunächst eine neue Logik der Enthüllung, die sich beobachten lässt. Früher, in einer anderen Zeit, in der Zeit der mächtigen Leitmedien, funktionierten Skandale nach dem Muster der linearen Kausalität – mit mächtigen Journalisten und einem weitgehend ohnmächtigen Publikum. Es gab eine Normverletzung, die irgendjemand den Medien bekannt machte oder die diese selbst recherchierten; dann folgten die Publikationsentscheidung und ganz am Schluss des Kommunikationsprozesses die Veröffentlichung und die mögliche Empörung des Publikums, das sich aufregen konnte oder auch nicht.

Heute kann das Publikum selbst in Aktion treten und in Rekordgeschwindigkeit, gleichsam testweise, publizieren – ohne vorab zu verifizieren, ob das Behauptete überhaupt stimmt. Es wird zu einem Enthüller eigenen Rechts, setzt seine eigenen Themen, attackiert Politiker oder Unternehmen und macht seine individuelle Empfindlichkeit auf der Weltbühne des Internets sichtbar. Das Böse, das Bestialische und das Banale, die Attacken eines ekelhaften Mobs, aber auch das aufklärerische Engagement, der digitale Aufstand gegen Diktatur und Gewalt – alles ist heute gleichermaßen sichtbar, was einfach nur zeigt: Wir befinden uns in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medien und können uns nicht vorstellen, welche möglichen Folgen unsere eigenen publizistischen Experimente womöglich haben.


Der Chor der Aufgeregten. Wir wollen unsere Privatsphäre verteidigen, aber laden Fotos und aktuelle Nachrichten zu unserem Beziehungsstatus bei Facebook hoch. Wir ekeln uns vor der digitalen Menschenjagd, aber wirken in den Kommentarspalten zum neuesten Skandal im Chor der Aufgeregten mit. Wir lachen – während wir im Kuriositätenkabinett von YouTube unterwegs sind – über den Leichtsinn des tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus, der unter den Augen einer Kamera einen Kugelschreiber stiehlt und damit einen Publikumshit landet – und schicken einen Link an Freunde und Kollegen. Wir sind uns sicher, dass Christian Wulff, der ehemalige deutsche Bundespräsident, einen dümmlichen Fehler begangen hat, als er den „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann anrief, um sich dann – schimpfend, fordernd, drohend – auf seiner Mailbox zu verewigen. Aber gelegentlich, in einem stillen Moment, erinnern wir uns an eigene Ausfälle, an deren Veröffentlichung glücklicherweise niemand Interesse hatte. Wir denken an eigene Fehler, an Unvorsichtigkeiten, an den dahingesagten Quatsch und an unsere ärgerlichen Reaktionen in einem nur scheinbar unbeobachteten Moment, die dann aber eben doch kein Laienpaparazzo (das ist die besondere Gnade der Nichtprominenz) spannend fand.

Und manchmal staunen wir einfach darüber, welche Effekte eine einzige, bekannt gewordene SMS auslöst, welches öffentliche Schicksal einem Ad-hoc-Foto zuteil werden kann und welche monströse Gestalt eine blödsinnige Banalität im Zerrspiegel der Öffentlichkeit zu bekommen vermag. Es ist, vorsichtig formuliert, ambivalentes Material, mit dem wir Tag für Tag konfrontiert sind. Einmal sind es Handyvideos, die im Extremfall ein Kriegsverbrechen dokumentieren, dann wieder Spottbilder über irgendeinen Prominenten; einmal wird der Blog einer Schülerin, die ihr furchtbares Schulessen vor aller Augen seziert, bekannt. Dann wieder bricht ein Shitstorm über eine Firma herein, die aus guten oder schlechten Gründen im Verdacht steht, sich falsch zu verhalten.


Die Erregung verpufft schnell. Die Massenmedien werden in diesem allgemeinen Kampf um Aufmerksamkeit keineswegs unwichtig; das glauben nur aufgeregte Social-Media-Berater, die mit solchen Ansagen ihr Geld verdienen müssen. Die rein netzinterne Erregung, so lässt sich zeigen, verpufft in der Regel sehr schnell. Die gesellschaftlich wirksame Empörung, die etwa einen Politikerrücktritt auslöst oder ein Unternehmen tatsächlich zum Handeln zwingt, braucht notwendig den Medienmix, die machtvolle Intervention von Zeitungen, Fernsehsendern, Radiomachern.

Klassische Leitmedien, etablierte Online-Magazine und das aus der Ohnmacht entlassene Publikum bilden im digitalen Zeitalter vielmehr ein Wirkungsnetz eigener Art – und alle gemeinsam verändern sie die klimatischen Verhältnisse in dieser Republik. Die Folgen: Es regiert, erstens, ein neuer Geschwindigkeitsrausch, ein allgemeiner Schnelligkeitswettbewerb – und zwar universal und in allen Medien. Es dominiert, zweitens, bei Politikern und Unternehmen eine neue Ängstlichkeit, eine verzagte Verkrampftheit, will man doch nicht derjenige sein, der die digitale Normpolizei und den nächsten Shitstorm provoziert. Und es zeigen sich, drittens, neue Asymmetrien, für unsere aktuelle Medienwirklichkeit charakteristische Missverhältnisse zwischen Ursache und Wirkung, Anlass und Effekt.

Schon ein einzelner idiotischer Filmtrailer, in dem der Prophet Mohammed verunglimpft wird, kann blutige, mörderische Gewaltausbrüche hervorrufen und im Extremfall in einem globalen Hassbeben enden.

Allerdings: Auf ein Leben im Wirkungsnetz plötzlich aufschäumender medialer Aufmerksamkeitsexzesse ist niemand wirklich vorbereitet. Denn dieses Leben braucht ein anderes Gespür für Netzwerk-Kausalität und eine Ahnung von den prinzipiell gewaltigen Wirkungsmöglichkeiten, die man eben auch als Zehnjähriger besitzt, wenn man seine Spaß- und Spottvideos ins Netz stellt. Im Umgang mit den Web-2.0-Technologien zeigt sich ein noch unentdeckter, noch unverstandener Bildungsauftrag, der an den Schulen und Universitäten die Lehrpläne verändern müsste. Natürlich, es gibt längst zahlreiche Kurse in Sachen Medienkompetenz. Und es ist vermutlich auch irgendwie nützlich, wenn alle Powerpoint lernen, die neueste Spielerei in einem Computerpool ausprobieren oder einen Rechner auseinanderschrauben dürfen. Aber das reicht bei Weitem nicht. Die Phase der Pubertät im Angesicht der Revolution kann nur einem reiferen Gebrauch weichen, wenn jeder versteht, dass er selbst zum Sender geworden ist und darüber entscheidet, was öffentlich wird – die böse Botschaft, die kluge Idee, der irrelevante Quatsch. Eine neue Ethik der Medien – ein technisch informiertes Training der moralischen Fantasie – ist die entscheidende Schlüsselqualifikation unserer Zeit. Diese Ethik muss, so schwierig das sein mag, das bislang Unvorstellbare vorstellbar machen.

Bernhard Pörksen, 43, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Dieser Tage erscheint sein – gemeinsam mit Wolfgang Krischke – herausgegebenes Buch „Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2013)

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