Blüten, Wüsten, Abgründe

Das Web ist wie geschaffen für magische Welten grenzenloser Obszönitäten. Deshalb turnt auch die Wissenschaft an den Geräten sexuellen Wildwuchses. Zwei Publikationen auf dem schmalen Grat zwischen Moral und Beklommenheit.

Wer sich jemals mit Pornografie beschäftigt hat, sei es wissenschaftlich oder aus Vergnügen, wird festgestellt haben: Das ist ein weites Feld mit wilden Blüten, Wüsten und Abgründen. Wer sich dorthin auf Reisen begeben hat, kommt in Begleitung zurück. Denn nicht wir verfügen über die Bilder, sondern sie besetzen uns. Dennoch wagen sich immer wieder tapfere Forscher in die Kampfzone zwischen Körper und Fantasie. Ihnen gebührt Achtung. Aber eine Bewältigung der Pornografie durch die Wissenschaft muss ein frommer Wunsch bleiben, zumal das World Wide Web wie geschaffen für magische Welten grenzenloser Obszönitäten scheint.

Der Soziologe Sven Lewandowski versucht eine seriöse Diagnose. Die zentrale These seines Buches „Die Pornografie der Gesellschaft“ lautet etwa so: Die gegenwärtige Pornografie wolle die Überwindung des Bewusstseins durch den Körper darstellen und sei in Koevolution mit dem Markt entstanden, der die Menschen ganz ähnlich als Konsummaschinen für sich arbeiten lasse. Immerhin hat der Markt als einzige Institution eine Kategorisierung der Lüste erarbeitet. Einschlägige Internetplattformen bieten als virtuelle Supermärkte der Ausschweifung paradoxerweise eine gewisse Ordnung. Wer nach sexueller Stimulation sucht, muss sich in den angebotenen Kategorien des Marktes wie zum Beispiel Frauentypen, Stellungen, Gangbang et cetera wiederfinden. Die Menschen sind in tausenderlei Wünsche zerlegt, denen je eine Warensorte entspricht.

Auch Lewandowski bietet einen Reiseplan durchs Meer der Lüste an. In seinem rein theoretischen Buch führt er von psychoanalytischen Erklärungsmodellen über die Internetpornografie und die Analyse der Erzählstrukturen zur systemtheoretischen Betrachtung. So turnt die Wissenschaft an den Geräten sexuellen Wildwuchses. Sublimierung pur. In der Vielfalt an Diskursen über sexuelle Praktiken, Partnerwahl und Fetischismen, so stellen auch die Medienwissenschaftlerin Martina Schuegraf und die Medienpädagogin Angela Tillmann in ihrem jüngst erschienenen Sammelband fest, haben normative Aussagen ihre Bedeutung verloren. Kriterien wie „normal“ oder „pervers“ gelten heute nicht mehr. Werbung, Sport, Web 2.0, Mobilfunkkommunikation und Computerspiele sind mittlerweile „pornofiziert“. Daher sprechen Kulturwissenschaftler im Unterschied zu Lewandowski nicht von der Pornografie, sondern von einem Prozess der Pornografisierung.

Schuegraf und Tillmann versammeln Beiträge aus verschiedenen Disziplinen, deren Vertreter den Kontakt mit Konsumenten und Produzenten nicht gescheut haben. Wobei diese Kategorie zunehmend verschwimmt. In Europa kann die Pornoindustrie nicht angeklagt werden, die Menschen zu verderben, weil die Konsumenten als Pornokleinstunternehmer bereits selbst Internetplattformen wie etwa Youporn mit immer billigeren Amateurvideos füttern. Volksschüler sammeln die ganze Bandbreite möglicher Kopulationsformen in Bildern auf ihren Handys und tauschen sie aus. Junge Erwachsene stellen ihre gefilmte Pornoarbeit ins Netz und warten auf Rückmeldung. Kein Wunder, dass Sexualpädagogen nunmehr eine Sexualkulturbildung fordern.

Sich gebrauchen ohne Bindung

Aber die westlichen Gesellschaften haben keine Sexual-, sondern nur eine Konsumkultur. Die kommerzielle Nutzung der Bedürfnisse, stellt der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch fest, führe dazu, dass die Konsumenten von Erotikware zunehmend weniger sexuelle Begegnungen haben. Die Menschen gebrauchen sich, ohne sich zu binden. Da die Sexualisierung außerdem zur Abstumpfung führt, müssen ständig neue und stärker erregende Varianten des Sexualaktes geliefert werden. Die Zufriedenheit wächst nicht, aber immerhin können die Konsumenten pornografische Werke von der sexuellen Alltagswelt unterscheiden.

Insgesamt bewegen sich die Texte beider Publikationen auf dem schmalen Grat zwischen Moral und persönlicher Betroffenheit. Das ist schwere Arbeit. Aber das ist Pornografie ja auch, hat man den Eindruck. Herstellung, Konsum und Reflexion scheinen wenig mit Spaß zu tun zu haben. Dazu kommt noch die Geschlechterfrage. Man liest vom neu entstandenen Pornofeminismus, der die klassische feministische Kritik an den männlichen Fantasien des Pornogeschäfts widerlegen will. Autorinnen wie Charlotte Roche oder Erika Leonhard alias E.L. James haben mit Porno-Chic für die jüngere und Mommy Porn für die reifere Generation mediale Aufmerksamkeit errungen. Liefern solche Bestseller nicht den Beweis, dass Frauen ihre sexuellen Inszenierungen heute autonom bestimmen können?

Nicht unbedingt, meinen kritische Körpersoziologinnen, denn die Selbstpornografisierung greife doch nur auf alte Klischees zurück. Auch Lewandowski winkt ab. Der größte Teil der auf dem Markt verfügbaren Filme, meint er, folge wenig innovativ demselben Plot, der mit einer extrakorporalen Ejakulation als Chiffre für den männlichen Orgasmus ende. Analverkehr, der heute fast in keinem Pornofilm fehlen darf, diene weniger ekstatischen Gefühlen als der Verleugnung des Weiblichen und der Bändigung desweiblichen Begehrens. Kurz und gut: Männer geben sich nicht hin, jedenfalls nicht den Frauen. Fügt man die Vermutung von Volkmar Sigusch hinzu, dass es auch im Porno um die ins rein Körperliche verdrängte Suche nach Zweisamkeit gehen könnte, dann taucht eine mögliche Erklärung auf, warum Pornografie, Erotic Chats und Sex Dating so florieren. Man will sich hingeben, aber der Plot verbietet es.

Körper sind heute nicht heteronormativ gestaltete Lovemaps aus Fleisch und Blut, die in der Kindheit geprägt werden. Später muss man die einmal eingeschriebenen Wege des Lustempfindens beachten, um zum Ziel zu kommen. Aber was ist das Ziel? Und vor allem: Lohnt sich die Arbeit? Die neuen Studien können hierauf leider ebenso wenig eine Antwort geben wie die Labyrinthe der pornografischen Verlockungen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2013)

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