Die Briten und die EU: Ein Missverständnis

Briten Missverstaendnis
Briten Missverstaendnis(c) AP (Jonathan Short)
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"Schwerer Nebel über dem Ärmelkanal – Kontinent abgeschnitten" titelte die "Times" legendär 1957. An dieser Denkweise hat sich bis heute wenig geändert. Großbritannien ist nicht nur geografisch eine Insel.

An ihren Feiern sollt ihr sie erkennen: Den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des ?lysée-Vertrags begingen Deutschland und Frankreich am Dienstag mit allem Pomp und Zeremoniell, inklusive gemeinsamer Regierungssitzung, einer Zusammenkunft beider Parlamente und hehrer Bekenntnisse zu einer „immer tieferen Union“. Kurz zuvor, exakt zu Jahresbeginn 2013, begingen London und Brüssel den 40. Jahrestag des Beitritts Großbritanniens zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der EU – mit eisigem Schweigen.
Das war wohl auch angemessen so, denn zum Feiern ist zwischen der EU und Großbritannien schon lange niemandem mehr zumute. Als eine Mischung aus „unangebrachten Annahmen und verpassten Gelegenheiten“ resümierte die europafreundliche „Financial Times“ zu Jahresbeginn die Bilanz der britischen Mitgliedschaft. Premierminister David Cameron warnte in seiner Rede am Mittwoch, in der er eine Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens bis Ende 2017 ankündigte, die Zustimmung in seinem Land zur Union sei nur mehr „hauchdünn“. Alle Meinungsumfragen bestätigen diesen Befund.

Warum tut sich Großbritannien mit der Europäischen Union so schwer? Die Briten und Europa, das war – und ist – zuallererst ein Missverständnis. Aus dem Zweiten Weltkrieg ging Großbritannien siegreich, aber pleite hervor. Der Mythos jedoch lebt und bildet bis heute einen Referenzpunkt für das kollektive Unterbewusstsein. Während sich Deutschland und Frankreich nach 1945 rasch erholten, wurde in Großbritannien etwa die Lebensmittelrationierung erst im Juli 1954 aufgehoben. Da waren die ?lysée-Abkommen bereits mehr als ein Jahr alt, und die Briten sahen es nicht ohne Verbitterung, dass die besiegten Deutschen die besseren Autos bauten und die undankbaren Franzosen, denen man zur Freiheit verholfen hatte, die größeren Stahlwerke hatten.

Man tröstete sich unter anderem mit dem, was vom British Empire noch übrig war. Als auch das zerbrach, trat ein, was US-Außenminister Dean Acheson 1962 so beschrieb: „Großbritannien hat ein Weltreich verloren, aber keine neue Rolle für sich gefunden.“ Europa war keine naheliegende Alternative, denn historisch war die britische Politik über Jahrhunderte darauf ausgelegt, dass ein durch Uneinigkeit geschwächtes Europa automatisch ein gestärktes Großbritannien bedeutete. Als London aus wirtschaftlichen Erwägungen in den 1960er-Jahren doch Schritte in Richtung Europa unternahm, sagte ausgerechnet Frankreichs Präsident Charles de Gaulle, der den Zweiten Weltkrieg im Londoner Exil verbracht hatte (soviel zum Thema Dankbarkeit!), zweimal „Non“.

Britische Extrawürste. Die Verzögerungen und ungleichzeitigen Entwicklungen führten dazu, dass Großbritannien schließlich 1973 Mitglied wurde, als der Ölpreisschock Europa gerade in die erste schwere Nachkriegskrise trieb. Für die Briten war die EU-Mitgliedschaft nie mit spürbaren wirtschaftlichen Vorteilen assoziiert, im Gegenteil: Im Gedächtnis bis heute präsent ist der erzwungene Ausstieg aus dem Europäischen Wechselkursmechanismus ERM 1992, nachdem das Land zuvor an den Rand des Ruins geraten war. Ebenso berühmt ist Margaret Thatchers Schlachtruf „I want my money back“, mit dem sie 1976 eine Verbesserung der britischen Zahlerposition erkämpfte. Als „Briten-Rabatt“ gilt das Zugeständnis den Europäern als eines von vielen Beispielen für britische Extrawürste.
Der verspätete EU-Beitritt Großbritanniens hatte nach den Worten des pensionierten Diplomaten Sir David Hannay zudem noch eine weitere Konsequenz: „Großbritannien vergab die Chance, von Anfang an die Gemeinschaft mitzugestalten und die Prioritäten zu setzen.“ So trat man schließlich einer Gemeinschaft bei, die vom deutsch-französischen Streben nach einer immer tieferen Union vorangetrieben wurde – genau das Gegenteil dessen, was die Briten wollten, und das nach ihrer Ansicht ihre wilden Auswüchse in der Gemeinsamen Agrarpolitik und Verordnungen zur Gurkenkrümmung fand. Nichts ist so einprägsam wie ein Vorurteil, das seine Bestätigung findet. Auch wenn die Konservativen unter Cameron heute die Vorreiter sein mögen – EU-Kritiker und -Gegner findet man in allen Parteien.

Blick nach Asien. Allein der gemeinsame Markt findet die Zustimmung der Briten, doch die aktuelle Krise in Europa bringt die britische Exportwirtschaft in schwere Not. „Die wirtschaftliche Zukunft liegt im Osten“, meint der „Economist“ mit Blick auf China und Indien. Die Blicke Großbritanniens sind traditionell auf diese Märkte gerichtet, und wenn auch Deutschland der größte Handelspartner ist, werden die stärksten Zuwächse in den asiatischen Schwellenländern verzeichnet. Das ist keine Einbahnstraße: Seit der Autohersteller Jaguar Land Rover dem indischen Industrieriesen Tata gehört, floriert das Geschäft wie nie. Zudem gehört die vielbeschworene „Special Relationship“ mit den USA zu den dogmatischen Glaubenssätzen jeder britischen Regierung.

Shakespeare schreibt in Richard II. über seine Heimat: „Diese glückliche Art von Menschen, diese kleine Welt,/Dieser kostbare Fels inmitten der silbernen See.“ Die Sehnsucht nach dem „Little England“ ist in einem Land, das von 2001 bis 2011 zwei Millionen Einwanderer (offiziell) registrierte, in dem die weiße Bevölkerung im selben Zeitraum von 91 auf 86 Prozent gefallen ist und in dessen Hauptstadt London die im Inland geborenen Briten mit 45 Prozent heute die Minderheit stellen, ebenso unerfüllbar wie unstillbar (und Thema unerschöpflicher Selbstkarikatur). Millionen Menschen aus Europa – zuletzt besonders viele junge Spanier – suchen in Großbritannien Zuflucht vor den verheerenden Folgen europäischer Politik: Wenn in Spanien die Arbeitslosigkeit bei 26,7 Prozent und in Großbritannien bei 7,6 Prozent liegt, ist es nicht einfach, einen Briten von den Segnungen einer „immer tieferen Union“ zu überzeugen.

Eine Reaktion auf das vermeintliche Versagen Europas ist der Rückzug auf sich selbst. Großbritannien ist nicht nur geografisch eine Insel. Von Europa meint man mit italienischem Dolce Vita und französischem Savoir-vivre das Beste schon zu kennen. Wo einst Baked Beans und lauwarmer Tee gedroht haben, regieren heute Linguine al Salmone und Beaujolais. „Kein Land ist so besessen von gutem Essen wie wir“, meint Bestsellerautor Will Self. In der Wirtschaftskrise ist aber eine Rückbesinnung auf die Mythen des Zweiten Weltkriegs zu erkennen und die vielbeschworene Fähigkeit, allein jeder Unbill trotzen zu können. Dafür bedarf es eines einigermaßen selbstzentrierten Weltbilds, wie es in der legendären Schlagzeile der „Times“ vom 22. Oktober 1957 zum Ausdruck gebracht worden ist: „Schwerer Nebel über dem Ärmelkanal – Kontinent abgeschnitten“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2013)

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