Warum die Ägypter so wütend sind

Zwei Jahre nach Beginn der Revolution warten die Menschen weiter auf ein besseres Leben. Die Todesurteile zur Fußballkatastrophe in Port Said sorgten am Wochenende zusätzlich für Unruhen.

Wie groß war der Jubel am Nil, als die Ägypter vor zwei Jahren ihren Langzeitherrscher Hosni Mubarak, von vielen nur mehr spöttisch „Pharao“ genannt, aus dem Amt jagten. Der Jahrestag des Beginns der Revolution am Freitag hätte also ein Grund zum Feiern sein sollen. Begangen wurde er allerdings ganz im Zeichen des damaligen Aufstandes: mit Straßenschlachten zwischen Demonstranten und der Polizei, Tränengas, brennenden Barrikaden, mehreren Toten und hunderten Verletzten.

In Kairo verzog sich am Samstagmorgen gerade der Rauch von den Unruhen der Nacht, da platzte ein Urteil herein, das die Emotionen erst recht aufkochen ließ: Das Oberste Strafgericht verurteilte 21 Fußballfans aus Port Said zum Tode. Ihnen wird vorgeworfen, bei der schlimmsten Katastrophe in der Geschichte des ägyptischen Fußballs vor einem Jahr in der Suezkanal-Stadt Port Said für den Tod von 74 Menschen, großteils Fans des Kairoer Klubs al-Ahly, verantwortlich zu sein.

In der Hauptstadt löste der Richterspruch Begeisterung aus: Die Verwandten und Freunde der Opfer jubelten, die Fans von al-Ahly feierten auf dem Klubgelände im Zentrum von Kairo das Urteil, schossen am helllichten Tag Feuerwerksraketen in den Himmel und fuhren in einem hupenden Autokorso durch die Straßen.


Sturm auf Gefängnis. Diametral entgegengesetzt die Reaktion in Port Said: Die Sicherheitskräfte waren zwar präventiv verstärkt worden, dennoch kam es zu schweren Krawallen: Bis zum Nachmittag starben mindestens 22 Menschen, und es gab zahllose Verletzte. Der Mob hatte versucht, das Stadtgefängnis zu stürmen und die Verurteilten zu befreien. Augenzeugen berichten, dass Unbekannte mit automatischen Waffen auf die Polizei geschossen hätten, die daraufhin Tränengas einsetzte. Zwei Polizeiwachen wurden gestürmt. Präsident Mohammed Mursi sagte seine Reise zum Afrikagipfel nach Addis Abeba ab und rief das Militär zu Hilfe, um die Unruhen einzudämmen. Panzer fuhren vor allen wichtigen Regierungsgebäuden in Port Said auf, die Stadt ist seitdem komplett von der Außenwelt abgeriegelt.

Zwei Jahre nach dem Beginn der Revolution liegen auf allen Seiten die Nerven weiter blank. Dies liegt unter anderem daran, dass trotz aller Erfolge der Muslimbrüder – sie gewannen alle Wahlen, gestalteten eine Verfassung nach ihren (umstrittenen) Vorstellungen, „ihr“ Präsident Mohammed Mursi legte sich erfolgreich mit Militär und Justiz an – die Machtfrage am Nil keineswegs als entschieden gelten kann.

Die Frustration wächst überall, freilich aus unterschiedlichen Motiven: Die Liberalen und die „Tahrir-Platz-Jugend“ fühlen sich von den Muslimbrüdern um die Revolution gebracht; die Kräfte des alten Regimes kämpfen mit Zähnen und Klauen um ihre Pfründe, gerade auch mit den Mitteln der Justiz; die Muslimbrüder, die als Regierende zusehends für die Lage verantwortlich gemacht werden, schaffen es nicht, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Ein paar am Freitag mit Revolutionsdiskont ausgegebene Schafe und Rinder werden die Stimmung der Begünstigten nicht lange heben.

Die Regierung selbst kann sich große Geschenke ans Volk ohnehin nicht leisten: Das Pfund sank im Jänner auf immer neue Tiefstände, die Devisenreserven haben sich seit Beginn der Revolution halbiert, und so sah sich Mursi schon zu der Versicherung genötigt, das Land werde nicht bankrottgehen. Kairo braucht dringend Geld vom IWF (Internationaler Währungsfonds), doch dieser verlangt im Gegenzug die Streichung von Subventionen, was bei der überwiegend ärmeren Klientel der Muslimbrüder gar nicht gut ankommen wird.


Tourismus leidet. Die Turbulenzen, die regelmäßig Bilder von Gewalt und Chaos rund um die Welt schicken, lassen den Tourismus nicht auf Touren kommen. Gerade im Jänner, der Hauptsaison, können die vielen Ägypter, die vom Kapitän eines Nil-Kreuzfahrtschiffes abwärts bis zum Straßenhändler von den Ausländern leben, Unruhen am Wenigsten brauchen.

Doch es gibt auch Kreise, denen Unruhen nützen. Vertreter des alten Regimes – ob in Uniform oder in zivil – haben kein gesteigertes Interesse daran, dass Mursi und die Muslimbrüder das Land in ruhigere Bahnen lenken. So tauchten auch gleich nach dem Fußballmassaker im Februar 2012 wüste Spekulationen auf. Damals waren nach einem Spiel zwischen dem Spitzenklub al-Ahly aus Kairo und Gastgeber al-Masry aus Port Said die dortigen Fans auf die Kairoer Schlachtenbummler losgegangen und hatten ein Blutbad angerichtet. Dutzende junge Leute wurden von den Tribünen in die Tiefe gestoßen, andere in der Panik zu Tode getrampelt. Am Ende lagen zahlreiche Menschen erschossen oder erstochen auf dem Rasen. Dass die al-Ahly-Hooligans bei den Straßenschlachten gegen Mubaraks Schergen in der erste Reihe gestanden waren, fachte die Verschwörungstheorien weiter an.

Das Urteil am Samstag wurde direkt vom Staats-TV übertragen. 52 weitere Angeklagte, darunter neun Polizeioffiziere, bekommen ihr Strafmaß erst am neunten März verkündet. Neue Unruhen sind programmiert, egal wie das Urteil ausfällt.

Unruhen

Im Februar 2012 kam es in der Suezkanal-Stadt Port Said zur größten Katastrophe in der Geschichte des ägyptischen Fußballs. Fans des lokalen Vereins al-Masry attackierten jene des Kairoer Klubs al-Ahly. Es gab 74 Tote und rund 1000 Verletzte.

Ein Gericht verurteilte dafür am Samstag 21 Fußballfans aus Port Said zum Tode. Infolge des Urteils kam es zu Unruhen mit mehreren Toten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2013)

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